Alles zerfällt: Roman (German Edition)
Übergangsriten, deren jede ihn den Ahnen näher brachte.
Ezeudu war der älteste Mann seines Dorfes gewesen, und mit seinem Tod blieben im gesamten Klan, neben den drei oder vier Männern seiner eigenen Altersgruppe, nur drei, die älter waren. Wann immer einer dieser Hochbetagten sich unter die Tanzenden mischte und wankend die rituellen Bestattungsschritte des Klans vollführte, zogen sich die Jüngeren zurück und Schweigen befiel die Runde.
Es war eine große Bestattung, wie es einem edlen Krieger geziemte. Als der Abend anbrach, nahmen Geschrei und Gewehrschüsse, Getrommel und das Blitzen und Klirren der Kampfmesser zu.
Ezeudu hatte in seinem Leben drei Titel erworben. Das war sehr verdienstvoll. Es gab im Klan nur vier Titel, und nur ein oder zwei Männer einer Generation erlangten jemals den vierten und höchsten. Wenn das geschah, wurden sie die Herren des Landes. Weil er Titelträger gewesen war, sollte Ezeudu nach Einbruch der Nacht bestattet werden und nur eine glühende Fackel durfte die heilige Zeremonie beleuchten.
Doch vor dem stillen und endgültigen Ritual steigerte sich der Aufruhr ums Zehnfache. Die Trommeln rasten, Männer sprangen wild auf und nieder. Ringsum wurden Gewehre abgefeuert, Funken flogen von zum Kriegersalut gekreuzten Klingen. Die Luft war dicht vor Staub und dem Qualm des Schießpulvers. Und da erschien der einhändige Geist mit seinem Korb Wasser. Überall wichen die Menschen vor ihm zurück, der Lärm erstarb. Selbst der Schießpulverrauch verlor sich im üblen Geruch, der ihn umhüllte. Er tanzte einige Schritte zu den Bestattungstrommeln und ging dann, den Leichnam zu beschauen.
»Ezeudu!«, rief er mit seiner kehligen Stimme. »Wärest du in deinem letzten Leben arm geboren worden, bäte ich dich, reich wiederzukehren. Aber du warst reich. Wärest du ein Feigling gewesen, bäte ich dich, Mut mitzubringen. Doch du warst ein furchtloser Krieger. Wärest du jung gestorben, bäte ich dich, Leben zu bringen. Aber du hattest ein langes Leben. Daher bitte ich dich, wiederzukommen, wie du warst. Wenn dein Tod der Tod der Natur war, gehe in Frieden. Doch hat ihn ein Mann verursacht, gönne ihm keinen ruhigen Augenblick.« Er tanzte noch einige Schritte, dann entfernte er sich.
Die Trommeln setzten wieder ein, die Tänzer steigerten sich abermals in fiebernde Glut. Die Dunkelheit lauerte, und die Bestattung nahte. Gewehrschüsse bezeugten ein letztes Mal Ehre, das Geschütz spaltete den Himmel. Und dann ertönten inmitten der Raserei ein qualvoller Schrei und Schreckensrufe. Als wäre ein Zauberbann gefallen, verstummte alles. Im dichten Gedränge lag ein Junge in seinem Blut. Es war der sechzehnjährige Sohn des Toten, der mit seinen Brüdern und Halbbrüdern den traditionellen Abschiedstanz für den Vater getanzt hatte. Okonkwos Gewehr war zerborsten, ein Eisensplitter hatte das Herz des Jungen durchbohrt.
Die Wirrnis, die folgte, war in der Geschichte Umuofias ohne Beispiel. Gewaltsame Tode kamen häufig vor, doch noch nie war Vergleichbares geschehen.
Okonkwo blieb nur ein Ausweg, er musste den Klan verlassen. Ein Mitglied des Klans zu töten war ein Frevel gegen die Erdgöttin, und ein Mann, der einen solchen beging, musste vom Land fliehen. Der Frevel konnte von zweierlei Natur sein, männlich oder weiblich. Okonkwo hatte sich den weiblichen zuschulden kommen lassen, weil er die Tat unwillentlich beging. Er würde nach sieben Jahren zu seinem Klan zurückkehren können.
In der Nacht sammelte er seine wertvollste Habe zu Traglasten zusammen. Seine Frauen weinten bitterlich, und ihre Kinder weinten mit, ohne zu verstehen, was geschah. Obierika und ein halbes Dutzend andere Freunde kamen, ihm zu helfen und ihn zu trösten. Jeder von ihnen legte neun- oder zehnmal mit Okonkwos Yams den Weg zu Obierikas Speicher zurück. Noch vor dem ersten Hahnenschrei befanden Okonkwo und seine Familie sich auf der Flucht ins Mutterland. Das war das kleine Dorf Mbanta [122] knapp hinter den Grenzen Mbainos.
Kaum brach der Tag an, stürmte eine vielköpfige Schar Männer in Kriegsbekleidung aus Ezeudus Viertel den Hof Okonkwos. Sie setzten seine Hütten in Brand, rissen seine roten Mauern ein, töteten seine Tiere und zerstörten seinen Speicher. Das war das Gericht der Erdgöttin, sie waren nur ihre Boten. Sie trugen im Herzen keinen Hass auf Okonkwo. Schließlich war sein größter Freund Obierika unter ihnen. Sie reinigten lediglich das Land, das Okonkwo mit dem Blut eines Klansmann
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