Alles zerfällt: Roman (German Edition)
entweiht hatte.
Obierika war ein Mann, der über die Dinge nachdachte. Sobald dem Willen der Erdgöttin genügt war, setzte er sich in sein obi und beklagte das Unglück seines Freundes. Warum sollte ein Mann so bitter für einen Verstoß büßen müssen, den er unwillentlich begangen hatte? Doch so lange er auch darüber nachsann, er fand keine Antwort. Er stieß nur auf immer größeres Widerspiel. Er musste an die Zwillingskinder seiner Frau denken, die er fortgebracht hatte. Was hatten denn sie sich zuschulden kommen lassen? Die Erde hatte verfügt, dass sie ein Verstoß gegen das Land seien und vernichtet werden müssten. Und wenn der Klan einen Frevel gegen die große Göttin nicht ahndete, würde ihr Zorn das ganze Land heimsuchen und nicht nur den Frevler. So sagten es die Ältesten: dass wenn ein einziger Finger Öl brachte, er alle anderen verschmutzte.
Zweiter Teil
Vierzehntes Kapitel
Okonkwo wurde von den Verwandten seiner Mutter in Mbanta freundlich aufgenommen. Der alte Mann, der ihn empfing, war der jüngste Bruder seiner Mutter und inzwischen das älteste noch lebende Mitglied der Familie. Sein Name war Uchendu [123] , und er war es, der zwanzig und zehn Jahre zuvor Okonkwos Mutter empfangen hatte, als sie aus Umuofia heimgeführt wurde, damit man sie bei ihren Leuten bestatte. Okonkwo war damals noch ein Junge gewesen, und Uchendu erinnerte sich sehr gut, wie der Knabe die traditionelle Abschiedsklage vorgetragen hatte: »Mutter, Mutter, Mutter, sie geht.«
Das war viele Jahre her. Diesmal kam Okonkwo nicht, um seine Mutter bei den Ihren zu bestatten. Er suchte für seine Familie mit drei Frauen und elf Kindern Zuflucht im Mutterland. Kaum sah Uchendu ihn und seine traurige, müde Gefolgschaft, erriet er, was geschehen war, und stellte keine Fragen. Erst am nächsten Tag erzählte ihm Okonkwo die ganze Geschichte. Der alte Mann hörte ihn schweigend bis zum Schluss an, dann sagte er mit einiger Erleichterung: »Es ist ein weiblicher ochu [124] .« Und er sorgte für die notwendigen Riten und Opfer.
Man überließ Okonkwo ein Stück Land, auf dem er seinen Hof anlegen, sowie zwei, drei Felder, die er in der bevorstehenden Pflanzzeit bebauen konnte. Mit der Hilfe der männlichen Verwandten seiner Mutter errichtete Okonkwo sein obi und drei Hütten für seine Frauen. Dann brachte er seinen persönlichen Gott und die Symbole seiner verstorbenen Väter unter. Jeder der fünf Söhne Uchendus überließ ihm dreihundert Saatyams, damit der Vetter seine Felder bestellen konnte, denn mit dem ersten Regen würde das Pflanzen beginnen.
Und schließlich kam er, der Regen. Er setzte plötzlich und mit großer Gewalt ein. Zwei bis drei Monde lang hatte die Sonne an Macht zugenommen, bis ihr Atem wie Feuer die Erde bestrich. Das Gras war längst versengt, der Sand unter den Füßen heiß wie glimmende Kohle. Immergrüne Bäume trugen Mäntel aus braunem Staub. Die Vögel in den Wäldern schwiegen, die Welt lag keuchend unter der lebenden, pulsierenden Hitze. Und dann: ein Donnerschlag. Es war ein zorniger, metallischer, durstiger Schlag, gänzlich anders als das tief rollende Grummeln der Regenzeit. Ein mächtiger Wind erhob sich und füllte die Luft mit Staub. Palmen schwankten, und ihre Wedel wurden vom Wind zu fliegenden Federbüschen geformt, seltsamem und unwirklichem Kopfputz.
Als der Regen endlich kam, fiel er in jenen großen, festen Tropfen gefrorenen Wassers, die die Leute »Nüsse aus Himmelsnass« nannten. Sie waren hart und taten, wo sie fielen, dem Körper weh, doch die jungen Leute rannten umher, lasen freudig die kalten Nüsse auf und warfen sie sich in den Mund, damit sie schmolzen.
Rasch belebte sich die Erde, und die Vögel im Wald flatterten und flöteten. Ein feiner Duft von Leben und Grün durchströmte die Luft. Sobald der Regen gemäßigter und in kleineren Tropfen fiel, suchten die Kinder Schutz, und alle waren glücklich, erfrischt und dankbar.
Okonkwo und seine Familie arbeiteten hart für ihre Yamsfelder. Doch war es so, als müsse man ohne den Eifer und Schwung der Jugend mit dem Leben von vorne beginnen, so, als lerne man in hohem Alter, Linkshänder zu werden. Die Arbeit machte Okonkwo nicht mehr dieselbe Freude wie einst, und wenn nichts zu tun war, saß er stumm da, und dämmerte im Halbschlaf vor sich hin.
Sein Leben war von einer einzigen großen Leidenschaft angetrieben worden: einer der Herren des Klans zu werden. Das war sein Lebensquell gewesen. Und er hatte
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