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Alles Zirkus

Alles Zirkus

Titel: Alles Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Brandt
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Mongolei donnern Schwerdampflokomotiven mit dem eingepunzten Schriftzug MOHNERLIESER auf dem Kessel. Aber wie ist es möglich, dass die meisten seiner Mitarbeiter in ihm einfach stur den Industriekapitän erkennen? Erstaunlicherweise vermögen sie darüber hinwegzusehen, dass er ja schon durch sein phantastisches Kostüm als Clown auszumachen ist: durch die großkarierte Jacke mit den bunten Flicken und dem riesigen Knopf, durch die eigentlich fast schon signalrote Pappnase.
    Mit frappierender Entschiedenheit reduzieren sie die Komplexität seiner Person und nehmen bloß wahr, was ihre einfache Weltsicht nicht durcheinanderbringt. Doch so geht es offenbar zu in den Leute-Köpfen: Selten setzen sie sich mit der ganzen Wirklichkeit auseinander. Sie pflücken sich das heraus, was ihnen gerade in den Kram passt. Warum es so unmöglich scheint, ihn als den wahrzunehmen, der er ist, nämlich als den unübertroffenen Weltclown Dirk Amy Mohnerlieser, über all das und noch mehr muss bei Gelegenheit einmal gründlich nachgedacht werden.
    Walter boxt sein Kissen, das in dieser Nacht keine bequeme Form anzunehmen bereit ist. Er wälzt sich einige Male auf der Suche nach einer geeigneten Position.
    Vor zwei Stunden ist er in sein Büro gekommen, hat die Clownsnase abgenommen und auf die Alabasterplatte seines Chefschreibtischs geworfen, wo sie jetzt liegt. Plötzlich, schnell wie ein Pfeil, schießt seine Hand vor und fährt auf die hohle Pappform nieder. Ein einziger Schlag, kurz und kräftig, der nichts übriglässt als einen roten Fleck auf einer weißen Fläche. Sein Schreibtisch sieht jetzt aus wie die japanische Flagge, registriert Mohnerlieser – ein Faktum von schwer zu beschreibender, aber weitreichender Bedeutung. Die Zivilfahne, nicht die Kriegsfahne. Er versucht zu lachen. Schüttelt sich ein paar Mal, denn es ist ja eigentlich nicht übel, sich selber so zu überraschen. Zack! Schneller als man nachzudenken imstande ist. Zack, und da ist es bereits geschehen, ehe die Gedankenpolizei einschreiten konnte. Tusch!
    Doch das Lachen ist gekünstelt, falsch. Es gerät nur zum matten Lächeln. Mohnerlieser gesteht sich ein, wie sehr ihn seine Erlebnisse ermüdet haben. Aber dies ist nicht das Ende. Noch ist es soweit nicht, beschließt er. Man muss versuchen zu vergessen …
    Und Walter Tomm seufzt erleichtert, ohne wachzuwerden.

Schnallen und Schnüre
    »Hier wohnt jemand? Wer?« Trixis Stimme holt ihn aus dem Schlaf.
    »Ach, bist du auch schon da?«, murmelt Walter und will die Augen wieder schließen. Sie schaltet das Licht ein: »Du legst mir einfach einen Zettel hin? Vielleicht hättest du mal anrufen können.«
    »Ich dachte ja nicht, dass du erst am Morgen kommst. Was glaubst du, wie lange ich gewartet habe. Ich wollte dir direkt sagen, worum es sich handelt, nicht am Telefon. Und was heißt ›wohnen‹? Ich habe einem Bekannten aus der Verlegenheit geholfen. Morgen ist er wieder weg.«
    »Welchem Bekannten?«
    »Ein Bekannter von früher. Wofür haben wir ein Gästezimmer? Lass mich endlich weiterschlafen. Ich muss früh raus.«
    »Da können Freunde übernachten, die uns besuchen wollen, aber nicht irgendwelche Leute. Das Gästezimmer ist für unsere Freunde da, all die Leute, die uns hier fehlen in diesem gottverlassenen Nest, wo es nichts gibt und niemanden außerhalb eurer Scheißfirma. Ich kann nicht arbeiten mit einem Fremden in der Wohnung! Gerade jetzt, wo ich mitten in den Vorbereitungen für den Film bin, das ist Sabotage. Wenn ich morgen frühstücke, will ich nichts mehr sehen von ihm.«
    Walter atmet in tiefen Zügen, die anzeigen, dass ihn der Schlaf wieder bei sich aufgenommen hat. Trixi sitzt noch einige Zeit im Bett, dann löscht sie das Licht.
    Am Morgen zwingt Walter sich zum Aufstehen. Daran ist er gewöhnt, der Wecker braucht kaum zu klingeln, ganz gleich, wie kurz die Nacht gewesen ist. Trixi liegt reglos und hat die Augen geschlossen. Ob sie nun schläft oder nicht – er muss überlegen, was mit René Schach geschehen soll. Inzwischen ist ihm selbst klar, dass sie sich zu Recht aufgeregt hat und seine Idee nicht besonders gut gewesen ist. Wie viele Probleme blieben der Welt erspart, würde nur eine simple Regel nicht fortwährend missachtet: Man darf sich niemals dümmer stellen, als man ist. Und wenn sie tausendmal über ein Gästezimmer verfügen, ihre Wohnung ist ein intimer Raum, nur für sie beide bestimmt, für Bob noch natürlich.
    Armes Tier, das keiner um seine Meinung bittet.

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