Alles Zirkus
Barmann, zwei Gläser bereit: »Magst auch eine Prärie-Auster? Vom Schnaps muss etwas mehr drin sein, der ist in diesem Fall nur eine Art Wirkstoff.«
Was Alkohol Charlies Ansicht nach sonst ist, dem geht Schach nicht nach, während ihn dieser Mensch neben ihm mit unendlich ausdruckslosem Schafsblick von der Seite mustert, weil er sehen will, ob der neue Kellner denn nun etwas von dem begriffen hat, was er ihn gerade wissen ließ. Schach nimmt das Glas, dankt und leert es in einem Zug. Die reinste Labsal. Er stellt eine Ladung White Ladies, Caipirinhas und Mojitos aufs Tablett und trägt sie sicheren Schritts zu einem mit sechs jüngeren Gästen besetzten Tisch.
Tänzerin
An der Kasse der Bahnhofsbuchhandlung steht eine lange Schlange. Trixi holt ein paar Zeitungen für die Reise, außerdem hat sie bis zur Abfahrt des Zuges noch einige Minuten. Nun, er wisse gar nicht, hört sie hinter sich jemanden sagen, wieso sich die Leute so aufregten, weil ihr großartiger Osten untergegangen sei. Das Entscheidende habe man doch übernommen: endlose Warteschlangen, Desinformation durch alle Behörden und konsequente Unzuverlässigkeit angeblicher Dienstleister, die ihre Dienste längst nicht mehr leisteten, sondern den Kunden aufhalsten.
Besonders voll ist der Zug nicht. Trixi findet auch ohne Reservierung gleich einen guten Fensterplatz, und der Sitz neben ihr bleibt leer. Den Stapel ihrer Zeitungen legt sie dort ab und nimmt sich die oberste. Immer schneller fliegen die Silhouetten der Häuser an ihr vorbei, während der Zug Fahrt aufnimmt. Sie lässt das Blatt sinken. Jetzt also nach München. Die Arbeit am Film hat richtig begonnen. Für Walter ist ihr keine Nachricht eingefallen. Bob – aber Walter wird sich um ihn kümmern, so viel ist ihm noch zuzutrauen. Sie hofft, im Koffer zu haben, was sie braucht, alles ist ganz schnell gegangen, als ihr auf einmal klar war, dass Leute, die ihre ganze Aufgabe darin sehen, Durchschnittlichkeit aufzuspüren und auf den neuesten Stand zu bringen, sie immer weiter gegen die Wand rennen lassen werden, wenn sie die Sache nicht selbst in die Hand nimmt.
Nach jedem Halt suchen Neuzugestiegene ihre Sitze, Frauen laufen telefonierend umher und lassen die kleinen Apparate auch während der Fahrt nicht kalt werden. Andere nehmen von alledem keine Notiz und arbeiten sich gewissenhaft durch dicke Aktenordner. Kleine Kinder plappern so laut, als hätten sie Megaphone im Hals. Sie verstummen nur, um Lesungen aus lehrreichen Kinderbüchern zu lauschen und dabei mit leeren Augen aus dem Fenster zu schauen. Gruppenweise reisende Männer entledigen sich ihrer Jacketts, klappen Laptops auf und beginnen die Knöpfe zu drücken wie Bandonionvirtuosen. Zwischendurch beugen sie sich über die Lehnen ihrer Sitze, um Firmeninterna, Verhandlungspositionen und Sportresultate zu besprechen. Der Stapel Zeitungen neben Trixi hat etwas Tröstliches. Endlich dann irgendwann rot leuchtend die Anzeige München . Vor der Wagentür leidenschaftlich verschränkt ein junges Paar, ein aufreizend blondes Mädchen in den kräftigen Armen eines schwarzhaarigen Mannes, hohe Absätze machen es ihr leichter, seine Lippen zu erreichen. Wenn sie gerade nicht küssen, reißen sie ohne zu sprechen mit Gebärden Witze und schütteln sich dann vor Lachen. Trixi kann aussteigen.
Ein Schmerz schneidet durch ihren linken Augapfel. In der Bahnhofsapotheke holt sie Tropfen. Dann tritt sie aus der Vorhalle in ein wirres Getriebe von Fortbewegungs- und Stillstandsformen. Sie zieht ihren Koffer auf Rollen hinter sich her und ist froh, kein Taxi nehmen zu müssen – so groß ist das Vergnügen, sich auf die durchgesessene Bank eines schlecht gelüfteten Kleinwagens zu zwängen, nicht. In einem Ladenschaufenster auf der Dachauer Straße sind mehrfarbige Bustiers ausgestellt, Korsagen aus unterschiedlichen Geweben, manche glänzen, andere sind aus Spitze. Latex. Feines Nappaleder mit Schnürungen, sogar die Ösen teilweise hauchdünn bezogen. Reißverschlüsse und Schnallen aus Metall. Sie wechselt die Seite, was Straßenbahnzüge aus beiden Richtungen veranlasst, ausgiebig Alarm zu klingeln. Ein blinder Mann mit einem Stock in der Hand ist einem anderen behilflich, der sich in einem elektrischen Rollstuhl voranbewegt, aber unsicher in der Bedienung zu sein scheint. »Jetzt geht’s loos!«, dringt das Gebrüll alkoholisierter Fußballfreunde vom Bahnhof hinter ihr herüber.
Man muss nur tun, was zu tun ist, und sollte sich dabei
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