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Alles Zirkus

Alles Zirkus

Titel: Alles Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Brandt
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von anderen nicht übermäßig behindern lassen. Sie wird einen Film machen, das ist kompliziert genug, der Rest darf gut und gerne etwas einfacher aussehen. Klarer muss alles sein. Realer. Verlässlicher. Wie soll sie Substanz schaffen, wenn um sie herum bereits alles aus Phantasie besteht? Die Wirklichkeit lässt sich nicht zur Variation beliebiger Hirngespinste degradieren. Walter folgt dem entgegengesetzten Programm. Vor einem Fabrikgebäude flattert ein Transparent im Wind, Künstlerateliers warten auf Besuch. Vielleicht erzählt ihr Mann nicht erst seit heute Märchen. Seine sagenhafte Südamerikareise zu der Rakete, an der er angeblich mitgebaut hatte und die dann geplatzt sein soll – Trixi interessierte sich nie dafür und glaubte ihm jedes Wort. Sie hat vergessen, René zu fragen, woher die beiden sich eigentlich kennen. Bestimmt nicht aus dem Urwald. Wahrscheinlich ist Walter mit einigen Firmenkollegen für ein paar fröhliche Tage nach Mallorca geflogen, und der ehemalige Legionär lief ihm im Strandpuff über den Weg. Und die abgestürzte Rakete?
    Vom Hotelzimmer geht Trixi in eine nahe gelegene Trattoria. Sie ist nicht müde und besucht noch eine Bar, wo sie Bourbon auf Eis bestellt und sich im Lärm des Lokals auflöst. Die Musik dröhnt, dass es unmöglich ist, an irgendetwas zu denken, und das ist genau, was sie braucht. Anderen Leuten beim Lachen zusehen. Eine junge Frau fällt ihr auf, weil sie hinreißend tanzt. Plötzlich steht sie vor ihr und zieht sie zu sich auf die Tanzfläche. Trixi lässt sich zwischen all den Jüngeren von den Basstönen durchrütteln. Es ist nach Mitternacht, als sie sich in ein Taxi setzt und zurück ins Hotel fährt. Am Morgen will sie damit beginnen, sich in der Stadt umzusehen, unter dem Vorzeichen ihres Projekts – mit anderen Augen als früher, zu der Zeit, als sie dort wohnte: eine junge, enthusiastische Filmstudentin, die ihr Glück kaum fassen konnte, dass sie dem Tal und der geknickten Lärche entronnen war – der endlosen Sehnsucht auf den Stühlen vor der Café-Bar Lolita auf dem Corso. Eine Frau, die ihren Traummann gefunden hatte.
    Ob sie irgendjemanden anrufen wird, den sie aus den Münchner Jahren kennt, wird sich zeigen. Im Augenblick hat sie nicht das Bedürfnis, in ihre Vergangenheit einzutauchen. Mit Pavol muss sie natürlich telefonieren, er wartet darauf. Aber bevor sie sich mit ihm verabredet, will sie absehen können, ob sie überhaupt noch dasein wird, wenn er aus Wien zurückfährt, oder wo sonst sie sich treffen müssen. Und Walter? Natürlich wird sie auch ihm sagen, wo sie steckt, aber sie weiß noch nicht, wann. Hat Walter jemals ein Kilo Eisenerz in die Hand genommen und sein Gewicht anerkannt? Ausgestreckt im Bett, vermisst sie Bob, der sich zu Hause gerne auf ihre Füße legt. Es hängt ihr zum Hals heraus, denkt sie im Halbschlaf, sich mit Langweilern abzugeben, die Klischees vor sich herwälzen wie Pillendreher die Mistkugel. Da fehlt doch alles, fehlt immer weiter, bis jemand kräftig die Hände zusammenklatschen lässt …

Telefon
    Bobs feine Zähne knabbern an dem großen Zeh, der sich aus dem Schutz der Bettdecke begeben hat und für den ausgeruhten Kater eine unwiderstehliche Angriffsfläche bietet.
    »Verschwinde«, ruft Walter und spannt die Decke fest über beide Füße, denn er ist keineswegs wach, jetzt, mitten in der Nacht. Er hasst es, gestört zu werden und dann stundenlang schlaflos daliegen zu müssen. Manchmal ist das Tier wirklich lästig. Entsetzlicher Durst quält ihn, und er fühlt einen brennenden Schmerz über einer Rasurwunde. Irritiert bemerkt er, dass seine Frau noch immer nicht neben ihm liegt. Er geht zur Küche, bis auf ihn und den Kater sind die Zimmer tatsächlich leer. Walter gießt sich ein Glas Selterswasser ein. Über allem in der Wohnung liegt dezent das charakteristische Aroma ihrer Zigaretten. Aber wo ist die Frau dazu? Er sieht auf die Uhr. Zwei. Verwirrt entnimmt er dem Kühlschrank den offenen Chablis und rückt den Stuhl so zurecht, dass er Bob, der kreuzfidel auf den Tisch geklettert ist, bequem den Bauch kraulen kann. Auf dem Display leuchtet die Uhrzeit auf, dann Trixis Nummer, aber sie hat ihren Apparat nicht eingeschaltet. Er spricht nicht auf die Mailbox.
    Nirgendwo ein Zettel. Schon die ganze Zeit über hat er sich gefragt, wo sie bleibt. Dies war nicht irgendein Abend. Ihr großer Neuanfang sollte stattfinden. Walter nimmt noch einen Schluck. Er hat ihr doch endlich Maiers Brief

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