Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
überfordert. Wir haben Zeit verspielt und historisch verloren. Das Land war auf einer Abwärtsbahn. Das Entwicklungstempo, das in der Vergangenheit die höchstentwickelten Länder einzuholen und den Unterschied der Produktionsniveaus zu verkleinern erlaubte, begann sich in den siebziger Jahren zu verlangsamen, bis es, wie bereits erwähnt, in dem Jahr, in dem Andropow an die Macht kam, bei null angekommen war.
Was die Qualität anging, so war unsere Produktion mit Ausnahme von Rüstungsindustrie und Energieressourcen nicht konkurrenzfähig. Hinzu kam: Das reichste Land der Welt konnte viele einfache Alltagsprobleme der Bürger nicht lösen. Viele Lebensmittel, Artikel für Frauen, Jugendliche, Kinder und alte Leute waren Mangelware. Man musste Kreativität, Intellekt und Interesse wecken. Das war die Aufgabe der Perestrojka mit ihrer Ausrichtung auf eine direkte freie und demokratisch gesicherte Beteiligung der Menschen an der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung.
Wir wollten wieder zu dem zurückkommen, was Lenin nach der Revolution getan hatte. Es gibt jetzt viele scharfe Verurteilungen Lenins. Ich bin damit absolut nicht einverstanden. Ich schätze an Lenin, dass er den Kommunismus mit dem intellektuellen Fortschritt, mit der Aneignung des ganzen von der Menschheit erworbenen Wissensschatzes verbindet. Trotz aller kritischen Einwände war er ein großer Mann. Er ging das Risiko ein, die Macht in dem Moment zu ergreifen, als das Land an der Schwelle einer Katastrophe stand. Trotz seiner Entschiedenheit und revolutionären Zielstrebigkeit konnte er Fehler eingestehen, das, was er getan hatte, überdenken und Schlüsse für die Zukunft ziehen. Lenin hatte keine Angst, veraltete Ansichten über Bord zu werfen, egal ob sie von ihm selbst oder von seinen Mitstreitern stammten.
Wir wollten an den Punkt zurückkehren, an dem Lenins Überlegungen aufgehört hatten. Auch als die Frage auf der Tagesordnung stand, über die bisherigen Vorstellungen vom Sozialismus hinauszugehen, beriefen wir uns auf Lenin. Das stimmt. Die Perestrojka begann im Zeichen des späten Lenin, was historisch durchaus naheliegend war. Der Bürgerkrieg und der Kriegskommunismus hatten die Bolschewiki zu einer Monopolisierung der Macht und zu gewalttätigen Verwaltungsformen getrieben. Das war auch der Beginn der Bürokratisierung von Partei und Staat, die Grundlage für das spätere totalitäre System.
Natürlich konnten wir am Anfang der Perestrojka noch nicht alles sehen, verstehen und bedenken. In den Anfängen sagten wir, darunter auch ich: »Die Perestrojka ist die Fortsetzung des Oktobers.« Jetzt würde ich sagen: Diese Aussage war richtig und falsch zugleich. Was die Analogie zwischen Oktober und Perestrojka betrifft, bin ich jetzt vorsichtiger geworden. Mein Anliegen war, unsere Gesellschaft frei, human und demokratisch zu machen und sich nicht auf Gewalt, sondern auf die Aktivität und das Bewusstsein der Menschen selbst zu stützen. Das würde ihnen helfen, Staatsbürger zu werden und die für das ganze 20 . Jahrhundert charakteristische Situation, in der das Volk wechselnde Gruppen von »Hirten« »die Weiden abgrasen« ließ, nicht mehr zuzulassen.
Ich selbst habe in meiner Evolution verschiedene Stadien durchlaufen: die Suche, das Formulieren eines Konzepts und einer entsprechenden Politik, die Umsetzung der angestrebten Pläne, dann: die Reformen selbst, neue Entdeckungen und Schlussfolgerungen während der Perestrojka. Diese Erfahrung hat mich zu dem Schluss geführt: Die Menschen können mit der Freiheit umgehen, wenn sie den Weg von Reformen und schrittweiser Entwicklung einschlagen. Der Weg in Richtung auf eine Revolution führt zu Chaos, Zerstörung und nicht selten auch zu neuer Unfreiheit.
Hat es einen Plan für die Perestrojka gegeben? Diese Frage wird bis heute lebhaft diskutiert. Nach der Plenartagung vom März 1985 begannen wir mit konkreten, »einfachen« Schritten und bereiteten die Gesellschaft so allmählich auf neue freiheitliche Lebens- und Führungsbedingungen vor.
Den ersten Plänen zur Perestrojka lag eine gründliche allseitige Analyse des Zustands der Gesellschaft zugrunde, vor allem, was die Wirtschaft betraf. Wir baten die Teilnehmer bei Treffen und Diskussionen, ihre Sicht der Situation darzustellen. Es kam etwas Unerhörtes zu Tage, buchstäblich alle waren unzufrieden, sogar die Leute aus dem Rüstungssektor, die sich bekanntlich in einer privilegierten Situation befanden. Es drängte sich
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