Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
klar der Eindruck auf: Morgen oder übermorgen kann alles zusammenbrechen. Die Veränderungen waren überfällig. Die neue Führung vom März 1985 musste sie in Angriff nehmen.
Es sind jetzt einige Bücher erschienen, darunter auch das Buch
Im Politbüro des
ZK der
KPDSU …
Es beruht auf den Mitschriften der damaligen Politbürositzungen und Besprechungen des ZK der KPDSU , die von Anatolij Tschernjajew, Wadim Medwedew und Georgij Schachnasarow stammen. [31] Mittlerweile ist schon die zweite Auflage dieses Buches erschienen. Es wirft ein Licht darauf, wie Politbüro, Regierung und einzelne Politiker handelten, und zeigt die reale Situation und Atmosphäre in der Führung des Landes, die von den allerersten Tagen an Reformwege suchte. Wir mussten uns aus den eisernen Fesseln des administrativen Kommandosystems befreien. Wir mussten Maßnahmen einleiten, die den Zustrom frischer Kräfte gewährleisteten, und zwar in allen Lebensbereichen. Man musste den Menschen die Freiheit geben; deshalb brauchte man Maßnahmen zur politischen Umgestaltung des Landes.
Die Perestrojka, insbesondere ihre Anfangsphase, wird oft mit den Reformen in China verglichen. China und die UDSSR sind von der Struktur und ihrem Entwicklungsstadium her ganz unterschiedliche Länder. Das chinesische Volk erreichte viel, als es die Reformen verwirklichte, die Deng Xiaoping und seine Nachfolger ausgearbeitet hatten. Und doch berührte das nur einen Teil der chinesischen Bevölkerung. Die Armut Hunderter Millionen Chinesen ist ein Faktum. Heute sind ökologische und Energieversorgungsprobleme in den Vordergrund getreten. Aber die Probleme der Demokratisierung werden für die Gesellschaft natürlich immer dringlicher.
Ich war und bin immer noch der Meinung, dass Reformen da, wo ihre Zeit gekommen ist, entsprechend den Umständen durchgeführt werden müssen: in China auf chinesische Art, in Russland auf russische, in Lateinamerika unter Berücksichtigung der Besonderheiten dieses riesigen Kontinents. Dort, wo das nicht geschieht, werden die Reformen nicht nur gebremst, sondern es drohen politische und soziale Gefahren. Unter den Bedingungen der UDSSR , so glaube ich, konnten radikale Änderungen in der Gesellschaft erst eingeleitet werden, als eine neue Führungsgeneration an die Machtspitze kam.
Ich muss immer an ein lange zurückliegendes Gespräch mit Andropow denken, das stattfand, als ich im Stawropoler Land arbeitete und er noch nicht Generalsekretär war. Ich sagte ihm, ich hätte den Eindruck, das Politbüro kümmere sich wenig darum, wer die heutige Führung einmal ablöse.
Andropow entgegnete ein wenig besorgt, aber mit einem Lächeln: »Worum kümmern wir uns denn sonst außer um das Land und die Menschen?«
Mir war nicht nach Lachen zumute, und ich sagte ihm offen: »Schauen Sie sich einmal ein Foto der Führung von den Oktoberfeierlichkeiten des vorigen Jahres an. Wenn man sich das ansieht, kriegt man es mit der Angst zu tun. Alle sind über siebzig und älter, es gibt kein einziges junges Gesicht.« Und halb im Scherz, halb im Ernst fügte ich hinzu: »Ihr sterbt alle bald.«
»Willst du uns alle beerdigen?«
»Nein, Jurij Wladimirowitsch, nicht ich will Sie beerdigen, das ist der Lauf der Welt. Ich erinnere mich an den Ausspruch eines orientalischen Weisen: ›Die Menschen werden geboren, leiden und sterben.‹ Zwei Stadien hat die Führung unseres Landes hinter sich, das dritte ist nicht aufzuhalten. Die Frage, wo die jungen Leute in der Führung bleiben, muss ernst genommen werden.«
»Weißt du, Michail«, sagte Andropow, »wenn junge karrieresüchtige Leute mit zu wenig Erfahrung an die Spitze drängen und die Ellenbogen einsetzen, um hohe Posten zu ergattern, kann es in der Führung zu Fehlern kommen. Ein altes Pferd verdirbt die Furche nicht.«
»Das stimmt, Jurij Wladimirowitsch. Aber es kommt doch auch die Zeit, da man eine neue Furche braucht, das alte Pferd aber stur den alten Weg geht. In diesem Punkt stimme ich mit Lenin überein, der gesagt hat: Wir brauchen eine Mischung aus erfahrenen, gestählten und jungen Kadern. Die Alten halten die Jungen von Abenteuern ab, geben ihre Erfahrung weiter, die Jungen treten den Alten auf die Zehen. Diese Mischung sorgt für das richtige Klima und Arbeitserfolge.«
Andropow antwortete mir lächelnd: »Da muss ich mich wohl ebenfalls Lenin anschließen.«
»Jurij Wladimirowitsch, bei uns sagt man: Es gibt doch keinen Wald ohne Jungholz.«
Das prägte sich Andropow ein, bis zum
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