Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
vorgenommen haben? Was meint ihr?«
Einzelne Stimmen: »Richtig so.«
»Sind das einzelne Stimmen, oder sind alle dieser Meinung?«
Einträchtige begeisterte Rufe: »Alle!«
Am Ende der Ukraine-Reise stand ein Treffen in Kiew mit leitenden Funktionären der Republik, der Gebiete und Ministerien, mit Wissenschaftlern, Künstlern und Studenten. Solange ich von den Leistungen der Ukrainer und ihrem immensen Beitrag für unsere gemeinsame Sache sprach, reagierte der Saal zustimmend. Aber ich wollte schon bei den ersten Kontakten mit der Ukraine auch die negativen Momente anschneiden. Als Heimat Breschnews hatte die Ukraine ja lange Jahre gleichsam unkontrolliert »unter dem Schutz und Schirm« Breschnews gelebt. Wie mir schien, nahmen die Zuhörer meine Worte aber mit Verständnis auf.
Viele Jahre freundschaftlicher Beziehungen verbinden mich mit Weißrussland. Ich verehre das Volk dieser Partisanenrepublik. Deshalb zögerte ich nicht lange und fuhr nach Minsk. Die Weißrussen sicherten mir bei allen Treffen ihre Unterstützung zu. Reich an Eindrücken kehrte ich nach Moskau zurück. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass Breschnew in den letzten Jahren aus gesundheitlichen Gründen wenig durchs Land gereist war – und die anderen ZK -Sekretäre ebenso wenig.
Ich wollte schon lange einmal nach Sibirien fahren, mir ein Bild davon machen, wie die Menschen dort lebten und arbeiteten, und ergründen, warum die Öl- und Gasförderung so schlecht lief. Zusammen mit Tschernomyrdin, Minister für Gasindustrie, Dolgich, Jelzin und Bajbakow traf ich am 4 . September im Gebiet Tjumen ein. Die Rundreise begann mit Nischnewartowsk, der Hauptstadt der Ölregion. Danach besuchte ich Urengoj, eine junge Stadt direkt am Polarkreis, wo damals große Projekte zur Erdgasgewinnung liefen. Ich war auch in Surgut, wo ein Kraftwerk und einige Wohnviertel gebaut wurden.
Mit den Erdöl- und Erdgasarbeitern kam es zu einer ungewöhnlich heftigen Auseinandersetzung. Obrigkeit wie Bewohner der Region beklagten sich übereinstimmend über die unzumutbaren Lebensbedingungen in dieser rauen Gegend. Die Infrastruktur hinkte stark hinter der Industrieentwicklung dieser Gegend hinterher, in die Tausende von neuen Siedlern strömten.
Eigentlich ist es eine Binsenweisheit: Wenn man ein Großprojekt in neuen, unerschlossenen Gebieten in Angriff nehmen will, muss man sich zuerst um die Infrastruktur kümmern: Straßen, Wohnraum, Strom, Heizung, Schulen, Krankenhäuser, Bibliotheken, ein Stadion, mit einem Wort um alles, was der Mensch zum Leben braucht.
Einen besonders niederschmetternden Eindruck machte die Stadt Urengoj auf mich. Sie befand sich noch im Aufbau. Viele Einwohner waren gekommen, um den »Boss« zu sehen. Die Unterhaltung war gereizt: »Wieso müssen wir in Erdhütten oder Eisenbahnwaggons hausen? Es fehlt an allem. Wieso gibt es hier am Polarkreis keine regelmäßigen Flugverbindungen mit der Hauptstadt und anderen Städten? Ach so, die Sowjetunion und Europa brauchen nur das Gas, da ist es wohl nicht wichtig, wo wir bleiben?!«
Mich empörte besonders, dass die Zuständigen für die Versorgung im Land diesen Pionieren Sibiriens und des Nordens ständig Waren lieferten, deren Frist abgelaufen war.
In der örtlichen Molkerei reichten die Kapazitäten nicht, obwohl es nur einen Monat gedauert hätte, dies zu beheben. Eine Idiotie nach der anderen. Die Maschinenbauer lieferten die Ausrüstung in Einzelteilen in den Norden, obwohl eine industrielle Montage und Lieferung von Großbauteilen in schwer zugängliche Regionen der UDSSR längst gang und gäbe war. Stattdessen mussten vor Ort Montagewerkstätten eingerichtet werden, was zusätzliche Arbeitskräfte, Wohnungen etc. nötig machte.
Auf der abschließenden Sitzung mit den Erdölarbeitern in Tjumen spürte ich, dass diese Leute allgemeine Absichtserklärungen leid waren. Sie brauchten wirksame Hilfe. Ich machte mich im Namen der Regierung dafür stark, dass ihnen umgehend unter die Arme gegriffen wurde.
Auf dem Rückflug fragte ich Raissa: »Na, du Sibirierin? Wie ist dein Eindruck, wie geht es dir jetzt?«
Die Antwort war überraschend: »Es war interessant. Ich habe mich an meine Kindheit erinnert gefühlt: dieselben Eisenbahnwaggons, Baracken, Schnee, Schneestürme und die lauten Abende, wenn die ganze Familie beisammen war.«
»Und wie fandst du es?«, fragte Raissa nach meinem Eindruck.
Nach dem, was ich gesehen und gehört hatte, gingen meine Gedanken in eine
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