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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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auf den Prüfstand.
     
    Glasnost bedeutete die Rückkehr verbotener Filme aus den Giftschränken, die Veröffentlichung kritischer Werke, die Zulassung praktisch der gesamten Dissidenten-Literatur und Herausgabe oder Wiederherausgabe der Literatur russischer Emigranten.
    Die ersten Schwalben waren Rybakows
Die Kinder vom Arbat
, Dudinzews
Weiße Gewänder
und
Neue Ernennung
von Bek. Alle drei Romane erschienen 1986 / 87 zum ersten Mal, nachdem sie zwanzig Jahre lang unveröffentlicht in der Schublade gelegen hatten.
    Anatolij Rybakow hatte mir einen Brief geschrieben und danach ein Manuskript geschickt. In künstlerischer Hinsicht machte es keinen großen Eindruck auf Raissa und mich, aber es beschwor anschaulich die Atmosphäre des Stalinismus herauf. Das Manuskript gelangte auch in die Hände der Moskauer Intelligenzija, die das ZK mit Briefen überschüttete, in denen sie das Buch als »Jahrhundert-Roman« priesen. Ich war auch schon mit dem früheren Werk Rybakows vertraut gewesen und der Meinung, dass der Roman veröffentlicht werden müsse. Die Episode mit dem Roman vermochte es, die Befürchtungen eines Teils der Führung zu zerstreuen, die mit den unabsehbaren Folgen einer Entlarvung des Totalitarismus verbunden waren.
    Besonders eingehen möchte ich auf Abuladses Film
Die Reue
, der 1984 gedreht wurde und eine Schlüsselrolle in der nationalen Kinematographie einnimmt. Der Film war unter Schewardnadses »Schirmherrschaft« entstanden und wurde zunächst nur einem ausgewählten Publikum vorgeführt. Er schlug ein wie eine Bombe, sodass im Politbüro diskutiert wurde, ob er in den Verleih kommen dürfe.
    Ich war der Meinung, die Künstlerverbände müssten das entscheiden. Darauf hatten die Filmer nur gewartet. Ein Präzedenzfall war geschaffen, der Damm war gebrochen, und sogleich wurden die Werke, die von der Zensur in die Giftschränke verbannt worden waren, hervorgeholt. Auch die Verlage brachten nun ungehindert Bücher heraus, neue Bücher, sowohl von sowjetischen Schriftstellern als auch denen der russichen Emigration, die sich nicht an den Kanon des sozialistischen Realismus gehalten hatten und darauf bedacht waren, die auf einem kritischen Realismus beruhende große Tradition der russischen Literatur wiederherzustellen. In Massenauflagen erschienen die Werke von Karamsin, Solowjow, Kljutschewskij, Kostomarow und anderen Historikern. Dann folgten die Bücher der russischen Emigranten aus der Zeit nach der Revolution: Bunin, Mereschkowskij, Nabokov, Samjatin, Aldanow. Und danach kehrten die großen, nach der Revolution aus dem Land gejagten oder verbotenen Philosophen in ihre russische Heimat zurück. Hier hat Alexander Jakowlew sich große Verdienste erworben. Ich kann nicht alle aufzählen und nenne nur diejenigen, die ich Zeit fand zu lesen: Solowjow, Fjodorow, Berdjajew und Florenskij. An dieser Flut von Werken sah man, wie viel meiner Generation, die nur die offizielle Ideologie vorgesetzt bekam, in geistiger Hinsicht vorenthalten wurde.
     
    Eine Prüfung für Glasnost war das Reaktorunglück von Tschernobyl. Tschernobyl hat uns die Augen geöffnet: darauf, was mit unserer Wissenschaft los war, wie es mit der Sicherheit bestellt war und mit der Kompetenz der Mitarbeiter des Atomkraftwerks. Tschernobyl legte gravierende Probleme in dem wichtigen Wirtschaftszweig des mittleren Maschinenbaus offen, der große, darunter auch militärische Aufträge – zum Beispiel für Atomwaffen – ausführte. Die Mitarbeiter und Leiter dieses Wirtschaftszweigs hatten große Verdienste; doch hatten diese zu einem Mangel an Selbstkritik und Verantwortungsgefühl geführt.
    Als wir am ersten Tag die Information über das Atomkraftwerk von Tschernobyl hörten, stieß das Politbüro auf eine unheimlich leichtfertige Einstellung der verantwortlichen Personen. Erstaunt nahmen die Politbüromitglieder die Einschätzungen des Präsidenten der Akademie der Wissenschaften und des Ministers für mittleren Maschinenbau zur Kenntnis, die lauteten: »Keine Panik, das hat es auch bei Industriereaktoren schon gegeben, aber alles hat sich eingerenkt. Um die Strahlung nicht an sich herankommen zu lassen, muss man nur ordentlich einen heben, etwas dazu essen und eine Runde schlafen …« Diese im höchsten Maße unangebrachte Berufung auf die »eigene Erfahrung« ist eines Wissenschaftlers und Politikers dieser Ebene unwürdig.
    Wir wussten noch nicht, was denn nun passiert war: eine Explosion mit Auswurf radioaktiver Stoffe oder

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