Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
30 . Jahrestag des 20 . Parteitags zusammen, der für meine Generation prägend war. [33]
Mein politischer Bericht wurde von den Delegierten mit Interesse aufgenommen, aber die Diskussion verlief im alten Trott: Selbstdarstellungen, Selbstdarstellungen, Versprechungen … Auch Lobeshymnen auf den Generalsekretär wurden angestimmt, obwohl man doch hätte meinen können, die Zeiten dafür seien unwiderruflich vorbei. Mich ärgerte das. Als Kulidschanow und Schewardnadse (sonst bekannte und geachtete Männer) in dasselbe Horn stießen, griff ich in die Diskussion ein und bat, »das Pathos herunterzuschrauben« und »aufzuhören, Michail Sergejewitsch durchzudeklinieren«. Eine Lappalie, wie es scheinen könnte, aber sie zeugt von der allgemeinen Atmosphäre des Parteitags: Es erklang einhelliges Gelächter und donnernder Beifall.
Die Diskussion nahm eine sachlichere Form an. Aber auch Meinungsverschiedenheiten traten zu Tage. Ein Teil der Delegierten, der die Situation als kritisch einschätzte, sprach die Verantwortung der früheren Parteileitung an. Andere hoben die Verdienste der vorangegangenen Generationen hervor und riefen dazu auf, die Kontinuität der Politik zu wahren. Aber es kam nicht zu einer offenen Kollision der gegensätzlichen Positionen.
Sofort nach dem Parteitag musste geprüft werden, wie diese Beschlüsse in die Praxis umgesetzt wurden. Besonders hat sich mir die Reise Anfang April nach Kujbyschew (heute Samara) und Togliatti eingeprägt. In dieser Region konzentrieren sich Flugzeugbau-, Chemie-, Metallurgie- und Lebensmittelindustrie, hochentwickelte Landwirtschaft, die berühmten Wolga-Automobilwerke ( WAS ), die Binnenschifffahrt und große wissenschaftliche Zentren. Die Reise dauerte drei Tage. Ich hatte den Eindruck, als hätte mich eine Zeitmaschine in die Vergangenheit versetzt.
Die Sekretäre der Gebiets- und Stadtkomitees behielten ihre Untergebenen im Auge und achteten streng auf das »zulässige« Maß an Kontakt mit dem Generalsekretär. Leute, die darauf brannten, mir zu sagen, was ihnen am Herzen lag, wurden mit einer Handbewegung gestoppt, »unnötige« Gespräche unterbunden. Mein Kontakt mit den Menschen brachte die örtlichen Chefs so aus der Fassung, dass sie unhöflich wurden und eingriffen. Ich musste sie wiederholt öffentlich zurechtweisen: »Das ist mein Gespräch und nicht Ihres.« Und ich sah, wie die beleidigten Gesichter und Nacken der Chefs rot anliefen. Ich traf auf den großen Wunsch der Menschen nach Veränderungen und die Gleichgültigkeit der Obrigkeit ihnen gegenüber.
Als ich nach Moskau zurückkehrte und den Politbüromitgliedern und ZK -Sekretären begegnete, die aus anderen Regionen zurückkamen, wuchs meine Unruhe nur noch. Überall der alte Trott, im Leben der Städte und Unternehmen gebe es bislang keinerlei Anzeichen einer Umgestaltung, so lautete das allgemeine Urteil bei diesem Treffen.
Das ZK überschwemmte eine Flut von Briefen ( 3500 bis 4000 pro Tag), größtenteils Klagen über die Untätigkeit der örtlichen Behörden. Mein Landsmann meldete mir aus Stawropol, er sei dieser Tage mit Plänen zur Verbesserung der Produktion beim Direktor der Sowchose gewesen. »Steck deine Nase nicht in fremde Angelegenheiten«, war die Antwort, mit der er aus dem Büro geworfen wurde. Aus Gorkij kam ein Brief von einem früheren Moskauer Kommilitonen, einem Doktor der Philosophie: »Damit du es weißt, Michail, in Gorkij passiert nichts, absolut nichts.«
Am 24 . April 1986 wurden im Politbüro die Diskussionen über die Gründe des Stillstands der Perestrojka fortgesetzt. Nach allgemeiner Meinung lag es an dem gigantischen Partei- und Staatsapparat, der Reformen und überhaupt jeglichen Veränderungen einen Riegel vorschob. Und das nicht nur aus Unverständnis … Ich machte die Kollegen auf ein Zitat in einer Publikation aufmerksam, deren Thema zu unserem Gespräch passte: »Chruschtschow wurde das Genick vom Apparat gebrochen, und dasselbe wird jetzt passieren.« Das war eine Warnung zur rechten Zeit …
Glasnost
Die Diskussionen über Glasnost in den Perestrojka-Jahren dauern bis heute an. Besonders irritiert hat mich Solschenizyns Aussage: »Alles wurde durch Gorbatschows Glasnost verdorben.« Er hat das mehrmals wiederholt, und ich will sein Urteil nicht übergehen. Auf dem internationalen Treffen der Zeitungs-Chefredakteure in Moskau habe ich dazu Stellung genommen und gesagt, obwohl ich Solschenizyn verehre, sei ich mit ihm nicht einverstanden.
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