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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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wenn ich in Stimmung war, durchaus nicht weniger als andere trank.
    Das Tischgespräch kam wieder in Gang. Die erste Frage, die mir gestellt wurde, lautete: »Wie verstehst du dich mit Breschnew?«
    Das war offenbar das Hauptkriterium für das Vertrauen der Runde.
    »Ich glaube, gut.«
    Dann begrüßten sie mich in ihrem Kreis als den jüngsten Sekretär eines Regionskomitees im ganzen Land. Das Gespräch kam auf die Regierung, richtiger: auf Kosygin und auf den Obersten Sowjet, das heißt auf Podgornyj. Offenbar wurde damit das Gespräch, das ich mit meinem Erscheinen unterbrochen hatte, fortgeführt. Es war gerade die Zeit der politischen »Beerdigung« Kosygins, und in Breschnews Umfeld machte man sich durch Kritik an der Regierung beliebt.
    In diesen Jahren war man ständig mit dem System der Entscheidungen der Kommandowirtschaft und des bürokratisch zentralisierten Staates konfrontiert. Fast für jede Frage musste man bei der Staatlichen Planungskommission vorsprechen und das Einverständnis Dutzender Ministerien und Behörden sowie Hunderter von Amtspersonen vorweisen. Ständig musste man nach Moskau fahren, sich mit jemand treffen und Druck machen, um dann feststellen zu müssen, dass die Sache von den Beamten verschiedener Systeme gebremst wurde. Man musste viel unternehmen, um es den Moskauer Beamten recht zu machen. Ein Land der Bittsteller und Förderer, obwohl doch eigentlich im Rahmen der Planwirtschaft alles vernünftig zugehen sollte. In der Praxis sah das anders aus. Die Überzentralisierung, bei der alles im Zentrum dieses Riesenstaates entschieden werden sollte, lähmte die Gesellschaft. Die geringsten Abweichungen und Versuche, aus diesem System auszubrechen, wurden sofort unterbunden.
    Nach dem Krieg kamen Produktionsgenossenschaften auf, die sich besonders da bewährten, wo die staatlichen Betriebe wenig tun konnten, zum Beispiel in der Kleinproduktion, im Dienstleistungssektor und in der Kommunalwirtschaft. Viele Güter der Produktionsgenossenschaften wurden sogar exportiert. Aber gerade diese Beweglichkeit, Flexibilität, relative wirtschaftliche und finanzielle Selbständigkeit wollte das System nicht zulassen, sodass die Produktionsgenossenschaften auf Beschluss des Unionszentrums aufgelöst wurden.
    Viele Menschen haben noch das traurig endende Experiment vom Anfang der sechziger Jahre in Erinnerung, als in den Neulandgebieten Kasachstans die Bezahlung nach einem Prämien-Akkordsystem eingeführt wurde. Wie sehr sich die Journalisten der
Komsomolskaja Prawda
und Teile der Öffentlichkeit auch ins Zeug legten, um die Neuerung zu unterstützen und die Initiatoren zu verteidigen, ein Teil von ihnen landete im Gefängnis. Lange wagte es keiner, diesen Versuch zu wiederholen. Dasselbe Schicksal ereilte das Experiment des Chemiekombinats Newinnomysk. Das Ministerium stoppte die Versuche des Betriebs, seine Rechte zu erweitern, und erstickte die Initiative im Keim.
    Diese Abschottung gegen jegliche Neuerungen wertete ich als Symptom einer chronischen Krankheit unserer Wirtschaft, die kuriert werden musste. Und oben? Oben dachten viele genauso, trauten sich aber nicht, ein Risiko einzugehen. Mit dem Nachdenken über diese »verflixten Fragen« begann die zweite Phase meiner Arbeit als Erster Sekretär des Regionskomitees. Anfangs glaubte ich, die nachlässigen und inkompetenten Kader, die unvollkommenen Verwaltungsstrukturen und Lücken in der Gesetzgebung seien schuld daran, dass der Einsatz der riesigen Mittel nicht die erwünschte Wirkung hatte. Belege dafür gab es mehr als genug. Doch langsam reifte bei mir die Überzeugung heran, dass das nicht alles war, dass die Ursachen für die geringe Effektivität sehr viel tiefer lagen.
    Die meisten Menschen sahen, wie sich die Situation verschlechterte, während die Spitze und die Propaganda ihre Erfolge anpriesen. Das Zentrum erwartete prompte, atemberaubende Ergebnisse aus den Landesteilen. Doch nur wo es eine Nachfrage gibt, stellt sich auch das Angebot ein. Zu Beginn eines jeden Jahres gaben die Gebietskomitees die Verpflichtungen der Arbeitskollektive ihrer Region an die Zentrale Presse weiter. Sie wurden deklariert und vergessen, im Zentrum wie auch vor Ort. Frechheit siegte: Diejenigen, die malochten, wurden mitleidig betrachtet und galten als dumm …
    Viele Abstrusitäten gingen durch, wenn die »Idee« von oben kam. Wenn du selbst auf eine Idee gekommen warst, musstest du dich auf alles gefasst machen. Bei genauer Einhaltung sämtlicher von

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