Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
oben kommender Verfügungen und Instruktionen war es einfach unmöglich, etwas Sinnvolles zustande zu bringen. Es ist kein Zufall, dass damals der Spruch kursierte: »Initiative ist strafbar.«
Einmal führte mich ein Kolchosvorsitzender lange durch seine Kolchosefelder. »Gefällt dir die Bewässerung?«, fragte er so nebenbei, als ich wegfahren wollte.
»Natürlich, bis zu einem Gewässer ist es ja weit. Woher habt ihr denn die Rohre?«
Der Vorsitzende schwieg und sagte dann unwillig: »Ich habe sie auf dem freien Markt gekauft …«
»Hast du sie geklaut?«
»Vielleicht …«
Manchmal gerieten die Leiter in Teufels Küche, wenn sie zu solchen Methoden griffen, und baten dann, sie zu verteidigen. Das Einzige, was ein Sekretär des Gebietskomitees in so einem Fall machen konnte, war, dem Staatsanwalt zu sagen: »Sei kein Formalist, schau auf das Wesentliche.«
So ein Einspruch konnte damals viel bewirken. Aber nicht selten fanden sich tüchtige und ehrliche Führungspersönlichkeiten auch in der Situation von Gesetzesbrechern und kamen auf die Anklagebank. In einem System, in dem noch die letzte Kleinigkeit vom Plan bestimmt wird, gibt es für Menschen mit Initiative und Unternehmungsgeist keinen Platz. Gleichzeitig versuchte die mit dem geringen Einsatz unzufriedene Spitze, das Dilemma durch einen Personalwechsel oder neue Verwaltungsstrukturen zu beheben. Auf diese Weise wurde die starre Verwaltungsstruktur noch unflexibler.
Je mehr und je tiefer ich in die Wirklichkeit eindrang, desto nachdenklicher wurde ich und suchte Antwort auf meine Fragen und Zweifel.
Wie es bei den anderen aussieht …
Während der Jahre meiner Arbeit als Sekretär des Regionskomitees änderten sich meine Interessen stark. Zuerst kümmerte ich mich im Wesentlichen um lokale Probleme, später um gesamtstaatliche, innen- und außenpolitische. Mein Bedürfnis, im Meinungsaustausch mit Kollegen, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden umfangreichere und zuverlässige Information zu bekommen, wuchs immer mehr. Ich nahm jede Gelegenheit wahr, um zu erfahren, was in anderen Regionen los war. Ich fuhr zu Tagungen, Seminaren, Konferenzen, Feiern und benutzte auch meinen Urlaub dazu. Dabei sei angemerkt, dass ich die Region nur mit Erlaubnis des ZK verlassen durfte. Ich war in Leningrad, Baku, Taschkent, Alma-Ata, Krasnodar, Rostow, Donezk, Jaroslawl, aber auch in anderen Städten und Regionen der Sowjetunion. Besonders profitierte ich von der Erfahrung im Bereich sozialer Planung in Leningrad, wissenschaftlicher Arbeitsorganisation in Rybinsk und der Hilfe für die Landwirtschaft in Donezk.
1975 machten Raissa und ich auf Einladung von Scharaf Raschidow Urlaub in Usbekistan. In Taschkent wurden wir so überschwänglich begrüßt, dass unsere Urlaubsreise einen offiziellen Anstrich bekam. Raschidow veranstaltete an unserem Ankunftstag ein Abendessen, zu dem er alle Sekretäre des ZK und das Politbüro der Republik einlud. Das kam für mich unerwartet. Bei diesem Abendessen platzierte Raschidow Raissa und mich neben sich und seine Gattin, und wir genossen die Freuden der Gastfreundschaft. Wir kosteten zum ersten Mal die exquisiten usbekischen Fladen, frisches und gedörrtes Obst, geröstete gesalzene Nüsse und usbekischen Plow.
Der folgende Tag war gänzlich der Bekanntschaft mit Taschkent gewidmet, einer riesigen, schönen, modernen Stadt, die nach dem verheerenden Erdbeben von 1966 zu neuem Leben erwacht war. Prächtige moderne Architekturensembles, Brunnen und Blumen … Aber ich erfuhr auch, dass es ein anderes Taschkent gibt: alte, ärmliche Häuser; Enge, das Fehlen jeglichen Komforts, Verwahrlosung, unhygienische Zustände.
Unsere Reise durch die Republik begann mit den Städten Buchara und Samarkand. Freunde, darunter auch mein alter Komsomol-Genosse Kajum Murtasajew, damals Erster Sekretär des Gebietskomitees von Buchara, zeigten uns stolz die alten architektonischen Meisterwerke. Sie vergaßen auch nicht, den selbständigen Staat Buchara zu erwähnen, der unter dem Zaren einen besonderen Status hatte. In Samarkand sahen wir zum ersten Mal einen richtigen orientalischen Basar: Berge von Wasser- und Honigmelonen, Weintrauben, große Tomaten, gedörrte Aprikosen, Rosinen, verschiedenes anderes Obst, Gemüse und Kräuter.
Murtasajew freute sich über das Treffen, blickte aber ängstlich auf den Sekretär des ZK , der uns auf Geheiß von Raschidow begleitete. In einem unbeobachteten Augenblick machte er seiner Sorge über die
Weitere Kostenlose Bücher