Allmachtsdackel
Namensgedächtnis! Sie haben den ganzen Nachmittag versucht, mich anzurufen? Leider musste ich ganz plötzlich in die Gerichtsmedizin nach Tübingen. Eine Wasserleiche aus Frommern. Gleich bei Ihnen um die Ecke, Herr Weber. Ein schwieriger Fall. Da hat man sich eines alten Pensionärs erinnert, zumal ich mich auch auf forensische Entomologie verstehe. Bei der Hitze entwickeln sich Schmeißfliegenmaden prächtig. So konnten wir feststellen, dass die Leiche bereits etliche Stunden im Wasser gelegen hatte, bevor zwischen 22 und 23 Uhr gestern Nacht die Rinderherde über sie hinwegtrampelte. Ja, da staunen Sie, Frau März! Was wir Gerichtsmediziner so alles feststellen können.«
Mein offenes Maul war allerdings weniger den Wundern der forensischen Insektenkundler geschuldet. Dann war es also gar nicht die Herde gewesen, die Jannik getötet hatte. Kein Unfall. Und dass Jacky und Maxi bei der Aussegnung die Hände gefaltet hatten, nützte ihnen nicht mehr als Alibi.
»Ja, eine Leiche ist ziemlich mitteilsam. Sie schwätzt noch mehr als ich!« Er lachte über die Terrasse hinweg. »Auch wenn der Tote aus Frommern kein Gesicht mehr hat und kein Organ an seiner Stelle sitzt, so hat er uns auch noch verraten, dass sein Tod in einem geschlossenen Raum eintrat, und zwar in der Nähe einer Ameisenkolonie. Wir haben Ameisenverbiss gefunden, aber keine Fliegenmaden in einem entsprechenden Entwicklungsstadium. Aber ich will Sie nicht langweilen. Wo bleibt die Bedienung? He, hallo, Fräulein!!!«
Die Blonde bewahrte sich ihr Lächeln.
»Ein Weizen für mich! Und ein … was nehmen Sie, Frau Herz? Ah! Ein Pils für die junge Dame. Und einen Kaffee für den Herrn.«
»Ein Java«, spezifizierte Richard grätig.
»Wahrscheinlich ging es um ein Mädchen«, redete Zittel nahtlos weiter. »Da erschlägt der eine den anderen. Auf dem Land ist es immer dasselbe: Inzest, Gewalt gegen Frauen, Eifersucht, Hass, all das, was der Schwermut des Menschen geschuldet ist. Die Gottferne der Jugend erzeugt Schwermut, und Schwermut erzeugt Hass auf andere und auf sich selbst und Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber. Der Tod ist ohnehin der ständige Begleiter der Bauern. Kühe, Hühner, Gänse, alles wird gezogen, um zu sterben. Auf dem Land, da zeigt der Tod jeden Tag seine Fratze. Sie würden sich wundern, Frau Sterz, was für eine grausame Fratze zuweilen. Ich war noch ein blutjunger Gerichtsmediziner, 1964 war das, als ich es mit einem vierzehnjährigen Buben zu tun hatte, der komplett durch einen Mähdrescher gedreht wurde. Raus kam er im wahrsten Sinne gedroschen.«
Richard erhob sich, bat um Entschuldigung und begab sich ins Cafe hinein.
»Identifizieren Sie so was mal«, fuhr Zittel gemütlich fort, »ohne Gentechnik! Aber wir haben es geschafft. Mithilfe von achtzehn Zähnen, die wir aus dem Korn gesiebt haben.«
»Paul Filser?«
»Nach Namen dürfen Sie mich nicht fragen, Frau März. Wie gesagt, mein Namensgedächtnis ist eine Katastrophe.«
Die Bedienung brachte das Weizen, das Pils und den Kaffee.
»Meistens ist Alkohol im Spiel.« Zittel zog den gelben Saft unter dem Schaum hervor in den Schlund. Sein Adamsapfel sprang drei Mal. Dann setzte er das Glas auf den Tisch und wischte sich die Schnute ab. »1975, das war auch so ein Fall, da drüben in der Stotzinger Mühle. Wie bei Max und Moritz. Nur, dass der Junge unten nicht so hübsch herauskam, dass die Hühner ihn aufpicken konnten. Er muss sternhagelvoll gewesen sein. Sonst legt man sich nicht in der Schütte über der Schneckenwelle schlafen. Die armen Eltern. Der Junge war gerade eben konfirmiert worden. 1997 hatten wir wieder so einen Fall. Ein Hochleistungshäcksler in Erzingen erwischte einen Burschen, der sich betrunken ins Gebüsch schlafen gelegt hatte. Er kam in Fünfzentimeterstücken hinten raus. Meterweit verteilt. Es handelte sich um einen Sechzehnjährigen aus Erzingen, der schon etliche Tage vermisst gewesen war, per DNS-Abgleich identifiziert. Ich kenne die Eltern. Sie verstehen es bis heute nicht. Und dann die Geschichte mit dem Gülletank, 2001. Ein Bauer versprühte Knochen auf dem Feld. Er hatte für seine Anlage gerade ein starkes Tauchrührwerk gekauft, das auch die schweren Bodenablagerungen schaffte. Liter für Liter haben wir die Scheiße durchgesiebt. Schätzungsweise sechzig Prozent der Leiche haben wir zusammenbekommen. Ein Fünfzehnjähriger aus Roßwangen. Und letztes Jahr der Siloballen. Ende Oktober war dem Bauern aufgefallen, dass einer
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