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Allmachtsdackel

Allmachtsdackel

Titel: Allmachtsdackel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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mit der ganzen Welt. Der Weltverbesserer. Einer, der nicht in seinem Namen, sondern im Namen Hunderttausender handelt. Oder in Gottes Namen.«
    Er hob das Glas im Reflex seines Elends, das über zwanzig Jahre zurücklag. Ich hielt den Atem an. Doch wieder setzte er es auf den Tresen zurück. »Willst du wissen, was ich meinem Vater wirklich vorwerfe, Lisa?«
    Ich nickte.
    »Ich werfe ihm vor, dass er nicht wollte, dass ich glücklich bin. Er hat mich nur angelächelt, wenn er zuvor mein Lächeln zerstört und Angst oder Scham in mein Gemüt gesenkt hatte. Stell dir einen Menschen vor, der die Kunst vollkommen beherrscht, ein Kind klein und schäbig und schuldig zu machen in jeder Minute, die es atmet. So sehr, dass der Gedanke an den Tod sein ständiger Begleiter wird und es mit der geladenen Armeepistole des Vaters unterm Kopfkissen schlafen geht – morgen bringe ich mich um, wenn mir die Lehrerin eine Sechs gibt, weil ich die Hausaufgaben nicht gemacht habe. So sehr, dass es sich später um den Verstand säuft, weil es zum Kopfschuss zu feige war.«
    Er zog die Hand von seinem Wodkaglas.
    »Mein Vater«, sagte er, »hatte für niemanden irgendein Gefühl, außer einem erzieherischen. ›Wen der Herr liebt, den züchtigt er, und er schlägt jeden Sohn, den er annimmt.‹« Er schob das Glas erst zögernd, dann entschlossen in meine Richtung.
    »Wenn ich das gewusst hätte, Richard, dann hätte ich deinen Vater schon eher mal umgebracht.«
    »Lisa, bitte!«
    Ich zog das Glas zu mir herüber. »Alles wird gut. Dein Vater ist eines natürlichen Todes gestorben. Dem alten Leichenfledderer Zittel könnte man wohl keine Eisenhutvergiftung für ein Herzkammerflimmern vormachen.«
    »Dann sind wir uns ja ausnahmsweise mal einig.«
    Ich prostete ihm zu und kippte den Wodka. »Aix! Brr!«
    Richard legte einen Schein auf den Tresen, rutschte vom Hochstuhl und seufzte: »Dann wollen wir mal hören, was Zittel über die Waagenbauer von Balingen zu sagen hat.«
     

23
     
    »Ich darf wohl sagen, ohne Ihren Vater hätte ich das Buch in vorliegender Form kaum schreiben können.«
    Richard rührte in seinem erkalteten Kaffee.
    »Eine beeindruckende Familie! Was für Persönlichkeiten! Gottlieb Weber, der beinahe kindlich fromme Vervollkommner der Substitutionswaage, oder Carl, der den Achtstundenarbeitstag einführte, oder Ihr Großvater Wilhelm Weber, der in seinem Betrieb etliche Juden aus den Ölschiefersteinbrüchen über die letzten Kriegstage rettete.«
    Das hatte Richard gar nicht ins Feld geführt, als ich nach dem Parteibuch seines Großvaters fragte. Wenn sich da nicht der dressierte Pietist offenbarte, der sich nie in Versuchung führen ließ, sich und die Seinen positiv herauszustreichen!
    »Ja, die Webers waren groß denkende Männer«, übernahm Zittel das Lob, »und so gottesfürchtig. Das Tagebuch von Gottlieb Weber ist ein anrührendes Zeugnis tiefer Frömmigkeit und Herzenserforschung.«
    »Sünde und Gnade, Sünde und Gnade und noch mal Sünde und Gnade«, murmelte Richard. »Ein Laufrad.«
    »Und gerade darin steckte der Fortschritt, nicht wahr! Das Revolutionäre.« Mittlerweile war es Nacht geworden, und Zittel sprach über Theologie und Aufklärung. »Die genaue Beobachtung hilft, die Welt zu erkennen, und die Welt ist nichts anderes als der Spiegel von Gottes unbegreiflicher Weisheit.«
    Richard lächelte verwundert.
    »Wir verstehen uns!«, irrte sich Zittel. »Der Geist des Vaters lebt im Sohn weiter. Viele Menschen glauben ja, mit der Erforschung des Weltalls bis in die schwarzen Löcher hinein hätten wir Gott vertrieben. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Je tiefer wir zum Beispiel in das Genom, den wunderbaren Bauplan allen Lebens, eindringen, desto mehr wird uns Gottes Weisheit bewusst, der unauflösliche Zusammenhang von Natur und Schrift. Gott offenbart sich uns stufenweise. Die biblischen Wunder werden uns nach und nach erklärlich …«
    »Sogar die Jungfrauengeburt!«, gelang es mir einzuwerfen.
    Zittels buschige weiße Brauen rückten über seine Nasenwurzel zu einem V ein. »Bitte?«
    »Na«, feuerte ich ins Blaue, »Ihr Sohn macht in seinem Labor doch schon mit der Parthenogenese herum, oder nicht?«
    »Das wüsste ich aber!« Zittel hustete Entrüstung aus der Lunge.
    »Was wäre daran so schlimm?«, fragte ich blöde.
    Der Doktor schüttelte den Kopf und wandte sich an Richard. »Die jungen Leute mit ihren Handys und Computern, und alles ist machbar und jede Krankheit muss geheilt

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