Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition)
so. Aber als ich dich so nackt und fertig gesehen habe, habe ich gemerkt, dass das so nicht gehen wird. Dass du nicht perfekt bist. In dem Moment war der ganze Scheiß egal.«
Harrison lag unter einem grauen Himmel. Feiner Nieselregen hatte eingesetzt.
Eine Kleinstadt mit zwölftausend Einwohnern. Trostlos. Die Landschaft sah aus, als könnten in ihr nur Verbrechen geschehen. Tim erinnerte sich an die Serienkiller Ray und Faye Copeland. Beide aus Harrison. Ein Fall, der die Gegend Ende der Achtziger in Atem gehalten hatte. Das Paar war schon über sechzig Jahre alt, als es in den Neunzigern ins Gefängnis kam. Gemeinsam hatten sie fünf Menschen umgebracht.
Das Krankenhaus, in dem sein Vater lag, war ein roter, hässlicher Neubau. Vor dem Westflügel gab es eine Baustelle. Sie parkten auf dem kleinen Parkplatz unweit des Haupteingangs. Blieben einen Moment im Wagen sitzen.
Derek schnallte sich als Erster ab, drückte unvermittelt Tims Hand. »Bist du okay? Sollen wir?«
Die Wärme, der Zuspruch schwächten ihn. Er verbarg sein Gesicht mit der Hand. Konnte die Tränen nicht verhindern. Schon wieder.
Verdammt, er hatte Angst. Roch das Aftershave des Sohnes, als er ihn an sich drückte. Für einen Moment überließ er sein Gewicht seinem Sohn.
Derek streichelte ihm den Rücken, hielt ihn ruhig. Von weit her hörte Tim den Regen aufs Autodach prasseln.
Sie warteten den Wolkenbruch ab. Schwiegen gemeinsam. Tim beruhigte sich. Fühlte sich dem Sohn näher.
Schon von Weitem sahen sie Agnes unter dem großen Glasvordach vor dem Haupteingang. Sie rauchte. Die Augen rot, verheult, müde vor Erschöpfung und Trauer.
Tim hatte seine Schwester nie rauchen sehen. Als sie die beiden bemerkte, warf sie die Zigarette weg und kam ihnen mit großen Schritten entgegen. Noch bevor sie bei ihnen war, wusste Tim, dass sein Vater tot war.
»Er ist tot. Es tut mir leid.« Agnes stieß es hervor, als sei es ihre Schuld. Tränen rannen ihr über das Gesicht.
Der Vater war tot. Der Knoten in seiner Brust begann im selben Moment weicher zu werden. Er umarmte seine Schwester. Spürte leichten Widerstand. Agnes ließ sich nicht auf die Umarmung ein, ihr Körper steif. Derek strich ihr tröstend über den Kopf. Sie schluchzte.
»Er ist vor einer Stunde gestorben.«
Tim hielt sie fest umarmt, vielleicht weil er selbst die Nähe brauchte.
Der Regen hatte ganz aufgehört. Ein kalter Wind setzte ein. Langsam ließ Agnes’ Weinen nach. Sie fasste sich.
»Schön, dass ihr da seid«, sagte sie zu Derek und umarmte ihn.
Sie rauchten gemeinsam unter dem Vordach. Ein dunkelhaariger Mann kam mit zwei Pappbechern auf sie zu.
Agnes schien ihn zu kennen. Ihr Gesicht erhellte sich. »Tim, das ist Sam. Mein Freund.« Unsicher lächelte sie.
Überrascht gab Tim ihm die Hand. Sam war Südamerikaner. Vielleicht Bolivianer. Er hatte ein offenes Gesicht. Tim schätzte ihn Mitte vierzig.
»Mein Beileid.« Fester Händedruck.
Derek begrüßte Sam, als wisse er von ihm.
Auf dem Weg zum Fahrstuhl nahm Tim seine Schwester beiseite. »Wie lange seid ihr schon zusammen? Ich mag ihn.«
»Seit zwei Jahren«, sagte sie knapp, ohne ihn anzusehen.
Zwei Jahre.
»Dad hat geglaubt, er sei mein Gärtner … Du weißt ja, wie er ist … wie er war «, sagte sie.
»Jetzt wird alles gut«, antwortete er.
Sie schwieg.
Man führte sie in einen weißen Raum. Krankenschwestern bewegten sich im Hintergrund. Blass lag der Alte auf einer Bahre. Mit einem dünnen Laken zugedeckt. Friedlich. Das Gesicht eingefallen, wächsern. Jemand hatte das schlohweiße Haar ordentlich zurückgekämmt.
Tim erkannte ihn zwar, aber der Vater sah erschreckend anders aus. So still. Harmlos. Der leblose Abdruck des schrecklichen Originals.
Er suchte in seinem Gesicht nach etwas, das er kannte. Er sah tiefe Furchen. Glatt rasierte Haut. Das hatte wahrscheinlich jemand vom Krankenhaus gemacht.
Vorsichtig berührte er die kalte Wange mit den Fingerspitzen.
Es wollte sich kein Gefühl einstellen.
Nach einem kurzen Gespräch mit dem Arzt fuhren sie ins Hotel. Tim zog die braunen Vorhänge zu. Braun war auch das Motelzimmer in der Nähe von Santa Barbara gewesen. Eine Erinnerung an Sue zuckte auf. Es schien ihm ewig her.
Er behielt die Jacke an, zog nur die Schuhe aus und legte sich aufs Bett. Blickte still an die Decke. Das friedliche Gesicht des toten Vaters verblasste schon in seiner Erinnerung. Wie ein verschwindender Geist.
Tim empfand Erleichterung. Mit jedem Atemzug
Weitere Kostenlose Bücher