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Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition)

Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition)

Titel: Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franka Potente
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nichts mehr erinnern.
    Liz hakte sich bei ihm unter, als sie das Universitätsgelände verließen. Er hörte ihre Absätze auf dem Asphalt. Sie waren wieder zu zweit. Ein neuer Lebensabschnitt. Er sah dem mit gemischten Gefühlen entgegen.
    Nun saß Derek vor ihm im eigenen Büro. Er sprach konzentriert. Souverän saß er mit übereinandergeschlagenen Beinen im großen Bürostuhl und sah noch immer aus dem Fenster. Fuhr sich gelegentlich durchs Haar, notierte etwas auf einem Notepad.
    Seltsam, dass er hier wie ein Bittsteller im Büro seines Sohnes saß.
    Er hatte es sich anders vorgestellt. Kleiner. Gewöhnlicher. Alles hier kam ihm fremd und neu vor. Ein Anflug von Scham streifte ihn, dass er sich nie für die Arbeit seines Sohnes interessiert hatte.
    Jetzt drehte sich Derek zu ihm um. Hörer noch am Ohr. In seinem Blick lag Erstaunen.
    Tim lächelte. Bedeutete seinem Sohn, dass er sich ruhig Zeit lassen solle.
    »Sam, ich rufe dich später an. Was Dringendes jetzt, ja …« Der Sohn beendete das Gespräch, sah ihn einen Moment prüfend an. »Wo warst du?«, fragte er nüchtern.
    Tim bemühte sich, ihm in die Augen zu sehen. »Ich habe mir eine kleine Auszeit genommen. Ich war zu Hause.«
    Derek musterte ihn kühl. Er schien nicht sonderlich erbaut von seiner Anwesenheit. »Hast du von Großvater gehört?«, fragte er dann.
    »Deshalb bin ich hier. Agnes denkt, es bleibt nicht mehr viel Zeit.«
    Derek nickte. »Ja, ich weiß.«
    »Hast du Liz … Hast du Mom davon erzählt?«
    »Ja, sie weiß Bescheid.«
    Tim lehnte sich vor. Rieb die Handflächen aneinander. »Hör mal, es tut mir leid, Derek. Wirklich.«
    »Was? Was genau tut dir leid?«
    Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor. »Dass du dich im Restaurant wie ein Vollidiot benommen hast? Oder dass du deine Frau geschlagen hast und dich ums Verrecken nicht daran erinnern kannst? Oder tut dir leid, dass du im Drogenrausch dein Haus völlig demoliert hast und nackt und vollgekotzt vor mir saßt?« Er löste die Krawatte.
    »Alles.«
    Tim zuckte mit den Schultern. Wo sollte er beginnen? »Ich war ein Arschloch. Ich habe deine Mutter geschlagen, damals. Ja.«
    Ein Hauch von Erstaunen legte sich kurz auf das Gesicht seines Sohnes.
    Tim fuhr fort. »Wir haben uns auseinandergelebt … und jetzt ist sie weg. Ich bin ein paar Wochen abgetaucht, ja. Ich hab den Job verloren, und plötzlich war nichts mehr übrig.«
    Sie blickten einander an. Draußen klingelten Telefone.
    »Jedenfalls habe ich uns zwei Flüge nach Little Rock gebucht für morgen früh.«
    Das Gesicht von Derek immer noch ausdruckslos.
    »Kommst du mit?«
    Stille.
    »Ich fänd’s toll, wenn du mitkommst.«
    Derek schien nachzudenken. »Solange du deine Klamotten anbehältst und nicht wie ein Vierzehnjähriger in die Ecke kotzt …« Er blickte hoch, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann nahm er den Hörer ab. »Jane, ich bin noch ’ne halbe Stunde beschäftigt hier. Verschiebst du mein Fünfuhrmeeting? Und cancel morgen und übermorgen alles, ich muss in einer Familienangelegenheit weg. Bitte bring uns noch zwei Kaffee.«
    Mein Gott, er war so erwachsen, dachte Tim. Er zeigte auf das Magazin, das er sich aus der Lobby mitgenommen hatte. »Hab den Artikel über dich hier drin gelesen!« Er zögerte. »Ich hatte keine Ahnung.«
    Eine junge Frau brachte den Kaffee, und der Moment war vorbei. Nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte, lehnte sich Derek vor. »Und?« Er sah Tim fragend an. »Dein Vater stirbt. Wie geht’s dir damit?«
    Tim zuckte mit den Schultern.
    Er musste den schwarzen Anzug anprobieren. Er hatte ihn ewig nicht getragen. Ganz hinten im Schrank fand er ihn. Weißes Hemd und schwarze Krawatte gleich auf dem Bügel dahinter.
    Erstaunt stellte er fest, dass ihm sowohl Jackett als auch Hose eine halbe Nummer zu groß waren. Auch das Hemd war ihm zu weit. Er betrachtete sich im Spiegel. Bemerkte, dass sein Gesicht schmaler geworden war. Seine Augen waren klar, der Bart gefiel ihm.
    Er probierte den Anzug an. Er wirkte darin jünger. Festlich. Er sah nach Beerdigung aus.
    Er spürte einen Kloß im Hals. In den nächsten Tagen würde er seinen Vater beerdigen. Er setzte sich aufs Bett, und die Tränen liefen seine Wangen herunter. Er ließ es zu. Weinte tonlos einige Minuten. Schließlich stand er wieder auf und ging in die Küche. Die Scheidungspapiere lagen noch immer im Schrank. Er unterschrieb und verschloss den Rückumschlag. Diese Reise war beendet. Er würde Derek

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