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Allmen und die verschwundene María

Allmen und die verschwundene María

Titel: Allmen und die verschwundene María Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Sack und schmeißt ihn in den Müllbehälter des Putzwagens. Falls also das, was Sie suchen, in einen Papierkorb gewandert ist, muss es in einem kleinen durchsichtigen Plastiksack sein. Das erleichtert die Suche immerhin ein wenig, nicht?«
    Carlos öffnete den Deckel des ersten Containers, stellte sich auf die Zehenspitzen, sah hinein und fischte einen großen Müllsack heraus mit einer offiziellen Beschriftung.
    »Und diese kleineren Müllsäcke befinden sich in diesen größeren, undurchsichtigen?«, erkundigte sich Allmen angewidert.
    »Leider. Ich fürchte, Sie müssen jeden öffnen und durchsuchen. Aber vielleicht haben Sie ja Glück, und es ist einer der ersten.«
    Bis jetzt war das Glück ausgeblieben. Sie hatten vierzig Säcke durchsucht, noch schätzungsweise neunzehn lagen vor ihnen. Es waren an diesem Tag zwanzig Zimmer belegt gewesen, und in jedem befanden sich drei Papierkörbe, den im Bad jeweils eingeschlossen.
    Carlos machte die schmutzigste Arbeit. Allmen [89]  fasste die Säcke mit spitzen Fingern an und mühte sich so lange mit dem Knoten ab, bis ihm Carlos zu Hilfe kam. Wenn dieser dann fand, der Sack sei seinem Herrn zuzumuten, reichte er ihn zurück.
    Er selbst nahm sich die mit den Sandwichresten, angebissenen Äpfeln, schmutzigen Kleenex, Ohrenstäbchen und löchrigen Socken vor.
    Allmen dagegen befasste sich mit den Zeitungen, benutzten Bordkarten, Einkaufstüten und leeren Pralinenschachteln. Und wenn er trotzdem mal auf ein Haarbüschel oder eine Bananenschale stieß, entschuldigte sich Carlos und nahm sich resolut der Sache an.
    Das Stück Leinwand, nach dem sie fahndeten, war nur etwa zehn auf sieben Zentimeter groß. Es konnte sich im Inhalt eines Müllsacks leicht verkriechen, und sie waren gezwungen, jedes Stück einzeln in die Hand zu nehmen.
    »What am I doing here?«, fragte sich Allmen. So hieß ein Buch des von ihm so verehrten Bruce Chatwin. Wie viel lieber wäre er jetzt mit dieser Sammlung wunderbarer Texte auf den Knien in seiner gläsernen Bibliothek gesessen, bei etwas Musik, Kaminfeuer und Burgunder. Stattdessen wühlte er hier im Müll fremder Leute. Er, der sich sein Lebtag nicht einmal um seinen eigenen gekümmert hatte.
    [90]  Das Einzige, was die erniedrigende Tätigkeit ein kleines bisschen erträglich machte, war die Faszination, die jede Art von Geheimnissen auf ihn ausübte. Zum Beispiel die Fetzen eines Briefes, der in schwungvoller Frauenschrift mit türkisfarbener Tinte auf das zartgraue Hotelpapier geschrieben war. Die Anrede lautete »Lieber (lieber?) Carl«.
    Allmen klaubte die anderen Fragmente aus dem Müllsack und setzte sie auf dem Zementboden zusammen:
    »Wenn ich gewusst hätte, dass Du so wenig Zeit haben würdest, mich zu treffen, ich hätte die lange Reise trotzdem auf mich genommen. Aber wenn ich geahnt hätte, dass Du auch so wenig (unterstrichen) Lust haben würdest, dieses bisschen Zeit mit mir zu verbringen, dann hätte ich mir die Reise erspart.«
    »Die Reise erspart« war gestrichen und ersetzt durch »den Teufel getan, eigens in diese Scheißstadt zu reisen«, was wiederum durchgestrichen war, diesmal ersatzlos.
    Danach hatte die Verfasserin den Brief zerrissen und die Fetzen in den Papierkorb geworfen. Allmen fragte sich, ob sie eine neue Fassung geschrieben hatte und was wohl in dieser stand. Wer war die Frau, die das geschrieben hatte? Sehr jung konnte sie nicht mehr sein, denn im Abfall befand sich auch das zerknüllte Geschenkpapier einer hiesigen [91]  Parfümerie und die Verpackung von Chanel No 5. Nicht gerade ein Jungmädchenduft. Aber vielleicht war auch dies ein Fauxpas des ominösen Carl, des Mannes ohne Zeit und Lust.
    Während Allmen seinen Träumereien nachhing, hatte Carlos drei Säcke untersucht und stieß nun ein unterdrücktes »Nada, nada, nada« aus. Allmen wurde aus seinen Gedanken gerissen, füllte den Müll mitsamt dem Brieffragment in seinen Sack zurück, tat ihn zu den anderen, bereits durchstöberten und ließ sich einen neuen aushändigen.
    Je größer der Berg der durchsuchten Säcke wurde, desto resignierter wurde Carlos’ Gesichtsausdruck. Für ihn sank die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Gesuchte überhaupt in einem dieser Säcke befand, mit der Zahl derer, die sie beiseitelegten. Er war es gewohnt, dass stets das Schlimmste eintraf, und es brauchte nur ganz wenig, um ihn darin zu bestätigen.
    Ganz anders Allmen: Er hätte nicht so leben können, wie er lebte, wenn er nicht fest davon überzeugt wäre,

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