Allmen und die verschwundene María
Lange konnte sie nicht geschlafen haben, es war noch immer hell, und gedämpfter Baulärm drang durch das kleine Fenster.
Jetzt erst entdeckte sie die Schachtel Zäpfchen, die Julio in eine Ecke gekickt hatte. Sie rappelte sich auf und ging auf schwachen Beinen dorthin. Nachdem sie sie aufgehoben hatte, musste sie sich einen Moment gegen die Wand stützen, um nicht umzufallen. Sie ging zur Matratze zurück und nahm ein Zäpfchen. Die Schachtel mit den übrigen versteckte sie unter der Matratze. Dann legte sie sich hin, deckte sich zu und wartete auf die Wirkung.
Die Bilder des Tages vermischten sich: der [128] Kofferraum, dunkel und hart; der Wald, grün und schwarz; Señor John, ernst und besorgt; Carlos, verzweifelt und mit Tränen in den Augen; Due, drohend und zudringlich. Das Bild. Immer wieder das Bild mit dem Loch. Das Pfand, gegen das sie freikommen sollte, zerstört.
Sie betete, dass Carlos begreifen möge, weshalb sie »Yalmha!« geschrien hatte.
Wieder musste sie eingeschlafen sein. Von draußen drangen keine Geräusche mehr herein, und es war fast dunkel. Sie fühlte sich besser. Die Halsschmerzen waren zurückgegangen, die Gliederschmerzen auch. Sie fror oder schwitzte nicht mehr so stark und konnte wieder einen klaren Gedanken fassen.
Der erste war: Ich darf nicht warten, bis man mich befreit. Ich muss mich selbst befreien.
María Moreno stand auf, legte sich die Wolldecke als Poncho um die Schultern und suchte im Halbdunkel noch einmal den Raum ab.
Das Fenster zum Lichtschacht lag zu hoch. Selbst wenn sie sich auf ihren Eimer stellen würde, wäre es unerreichbar. Und selbst wenn sie es schaffen würde, die Unterkante der Fensteröffnung zu erreichen, hätte sie sicher nicht die Kraft, sich hinaufzuziehen.
Das Abflussrohr, das neben dem Fenster aus der [129] Decke kam, auf halber Raumhöhe abbog und fast waagrecht die Wand entlanglief, wäre zwar erreichbar und brächte sie in Reichweite des Fensters, wenn sie darauf stehen würde. Aber wie kam sie da hinauf?
Die Tür – aussichtslos. Sie sah zwar nicht besonders stabil aus, und wenn sie die Klinke runterdrückte und rüttelte, dann hatte sie viel Spiel. Aber sie öffnete sich nach außen und war auf der anderen Seite mit einem Putzriegel verschlossen, an dem ein Vorhängeschloss hing. Das war zwar etwas lotterig, aber um den Riegel wegzusprengen, brauchte es Kraft. Mehr, als María selbst bei bester Gesundheit besessen hätte.
Neben der Tür ragten ein paar Elektrodrähte aus der Wand. Ohne bestimmte Absicht zog María an einem und erschrak. Hinter ihr ertönte ein Geräusch. Es kam von einer anderen Stelle an der Wand, aus der Drähte ragten.
Sie zerrte an einem anderen. Wieder ein Geräusch. Diesmal von der Decke. Auch dort schauten Drahtenden heraus.
María hörte Schritte vor der Tür und gleich darauf das metallische Geräusch des Vorhängeschlosses.
Sie legte sich auf die Matratze und stellte sich schlafend.
[130] 14
Während sich María Morenos Gesundheitszustand etwas besserte, verschlechterte sich der von Dalia Gutbauer. Die Abstände zwischen ihren Hustenanfällen wurden kürzer, ihr Fieber stieg, und das Atmen begann ihr schwerzufallen.
Die Pflegerin hatte Doktor Kersthuber gerufen, und dieser hatte beim Abhören Geräusche festgestellt, die ihn, wie er sich ausdrückte, »etwas nervös« machten.
Dalia Gutbauer hatte geantwortet: »Wenn ich etwas nicht gebrauchen kann, ist es ein nervöser Arzt.« Sie weigerte sich, das Haus für die Röntgenuntersuchung zu verlassen, zu der Kersthuber dringend riet.
Auch die Einnahme eines Antibiotikums lehnte sie ab. Er machte den Fehler, das Wort »präventiv« zu benutzen.
»Geben Sie es mir dann therapeutisch, wenn Sie sicher sind«, empfahl sie ihm.
Nach der Visite nahm Doktor Kersthuber im Korridor Cheryl Talfeld beiseite und besprach mit ihr die nächsten Schritte. Er hatte vor, ein mobiles digitales Röntgengerät kommen zu lassen und Madame Gutbauers Zimmer mit einigen in der Intensivmedizin gebräuchlichen Geräten [131] auszustatten. »Dazu brauche ich von Ihnen zweierlei, Frau Talfeld: grünes Licht, was die Finanzen angeht. Und die Maße des Gästelifts und dessen Gewichtslimit.«
Cheryl Talfeld gab ihm grünes Licht und bat Monsieur Louis, den Lift auszumessen. Dann ging sie zurück ins Krankenzimmer.
Die Schwester öffnete und legte den Finger an die Lippen. Dalia Gutbauer war eingeschlafen.
Cheryl trat ans Bett und sah auf die alte Frau hinunter. Die weißen
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