Allmen und die verschwundene María
Haarspitzen, die das Gesicht einrahmten, waren feucht vom Schweiß und klebten auf der faltigen Haut. Dalia Gutbauer war bleich, aber zwei rote Flecken glühten auf ihren Wangen. Sie atmete flach und rasch durch den halbgeöffneten Mund. Die Lippen hatten die etwas zu perfekten Zähne freigelegt, was ihrem Gesicht einen glücklich verträumten Ausdruck verlieh, der durch die geschlossenen Augen noch verstärkt wurde.
»Sie gefällt mir nicht«, flüsterte die Schwester.
Cheryl gefiel sie auch nicht. Aber nicht im selben Sinn. Sie machte sich keine Sorgen um die alte Frau. Sie konnte sie nicht mehr ausstehen. Besonders gemocht hatte sie sie nie. Aber sie hatte sie amüsiert. Sie hatte sie studiert wie eine bemerkenswerte Naturerscheinung. Ihre Launen, ihre Exzentrik, ihre Kälte, ihre Verletzlichkeit, ihren Machthunger, [132] ihre Durchtriebenheit, ihren Witz, ihren Charme und ihre Großzügigkeit, die letztlich schuld daran war, dass sie es zweiundzwanzig Jahre mit ihr ausgehalten hatte.
Cheryl Talfeld war in all der Zeit eine wohlhabende Frau geworden. Nicht nach den Maßstäben ihrer Chefin, aber da sie während der ganzen Zeit bei wachsendem Einkommen und kaum Ausgaben Dalia Gutbauers Investitionstipps treu befolgt hatte, waren ein paar Millionen zusammengekommen. Die finanzielle Unabhängigkeit hätte sie schon lange. Nur die persönliche fehlte ihr. Und zwar je länger, desto mehr.
Die Schwester hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht und begonnen, ein Buch zu lesen. Cheryl Talfeld stand neben dem Bett und blickte auf die Frau hinunter, die die wichtigsten Jahre ihres Lebens bestimmt hatte. Vielleicht hatte Allmen recht, als er sagte: »Sie ist geisteskrank, nicht?«
Sie war nie jemandem begegnet, der so besessen davon war, alle Niederlagen seines Lebens nachträglich in Siege zu verwandeln. Niemandem, der so nachtragend, selbstgerecht und rachsüchtig war.
Jahrelang hatte sie das Phänomen Dalia Gutbauer studiert und geglaubt zu wissen, wie die alte Frau tickte. Selbst als diese die verblühte Dahlie aus dem Bild schnitt und sie Teresa Cutress schickte, [133] konnte sie nachvollziehen, was in ihr vorgegangen war. Aber warum hatte sie das Bild dann doch noch Allmen und Carlos überlassen?
Gab es in einem Winkel dieses alten Herzens doch so etwas wie Mitleid, Reue – gar Selbstlosigkeit?
Sie sah das ungewollte Lächeln und den flachen Atem der Greisin und dachte: Selbst wenn es so wäre, von mir aus kann sie abkratzen.
In diesem Moment schlug Dalia Gutbauer die Augen auf. »Zu früh gefreut«, sagte sie, »ich lebe noch.«
[135] Dritter Teil
1
Es gab nicht viele Orte in dieser Stadt, an denen Allmen noch nie gewesen war. Dies war einer davon. Er befand sich im S-Bahnhof eines Außenquartiers am Ende einer wenig frequentierten unterirdischen Ladenstraße zwischen einer chemischen Reinigung und einem Laden für Handy-Zubehör. Es war ein Schnellimbiss mit dem dämlichen Namen »Schmatz!!« in roter Schrift in einer gelben gezackten Sprechblase. Vor dem Schaufenster standen drei Tische mit Plastikstühlen, im Inneren fünf, sechs weitere. Im Glastresen lagen Sandwichs, und darauf stand eine Hotdog-Maschine, in deren Glaszylinder ein paar Würstchen badeten und an deren Toaststangen zwei Brötchen steckten. An einem Tisch verzehrte ein Backpacker sein Hotdog, hinter dem Tresen stand eine gelangweilte Jugendliche in einem weinroten Arbeitskittel und dazu passender Mütze, beides mit dem »Schmatz!«-Logo.
[136] Sonst war niemand da. Er war etwas zu früh, bestellte einen Kaffee, besann sich und änderte die Bestellung in »ein Mineralwasser mit «.
Noch bevor das Getränk gebracht wurde, traf seine Verabredung ein. Ebenfalls zu früh.
Sie kam auf seinen Tisch zu, Allmen erhob sich, und sie gaben sich die Hand. »Ciao«, sagte sie mit ihrer dunklen Stimme und einem Lächeln, das ausdrückte, dass ihr eigentlich nicht nach Lächeln zumute war. Er wusste sofort wieder, warum er sich bei ihrer ersten Begegnung beinahe verliebt hatte. Und verstand, warum sie Tino Rebler so gefährlich machte. Er hatte noch nie eine Frau getroffen, die das Damen- und das Mädchenhafte auf so verwirrende Art vereinte. Und schon gar nicht an einem so uneleganten Ort bei einem so banalen Getränk.
Sie sagte auf Italienisch mit ihrem angenehmen römischen Akzent: »Hier sieht uns keiner«, und setzte sich.
Auch sie traute dem Kaffee des Schmatz!! nicht und bestellte Wasser. »Tino hat mit der Entführung nichts zu
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