Allwissend
Zeit mit dieser Überlegung zu verbringen.
Jedenfalls noch nicht.
In diesem Moment klingelte das Mobiltelefon neben dem Bett und riss sie aus ihren Gedanken.
Dance schaltete sofort das Licht ein, setzte sich die Brille auf und musste lachen, als sie die Kennung des Anrufers sah.
»Jon«, meldete sie sich.
»Kathryn«, sagte Boling. »Es tut mir leid, Sie so spät zu stören.«
»Das macht nichts. Ich habe noch nicht geschlafen. Was gibt's? Stryker?«
»Nein. Aber Sie müssen sich etwas ansehen. Das Blog - der Chilton Report. Gehen Sie am besten gleich mal online.«
Dance saß im Jogginganzug im Wohnzimmer, und die Hunde lagen neben ihr. Das Licht war ausgeschaltet, aber der Mond und eine nahe Straßenlaterne malten schillernde blauweiße Streifen auf den Kiefernholzboden. Die schwere Glock drückte gegen Kathryns Wirbelsäule und zog den ausgeleierten elastischen Bund der Trainingshose nach unten.
Der Computer war endlich mit dem Laden der Software fertig -
»Okay.«
»Sehen Sie sich das letzte Posting des Blogs an«, sagte Boling und nannte ihr die URL.
>
Http://www.thechiltonreport.com/html/june27update.html
Sie war völlig überrascht. »Was...?«
»Travis hat den Report gehackt«, sagte Boling. »Wie ist das möglich?«
Der Professor lachte humorlos auf. »Er ist ein Teenager, also wundern Sie sich nicht.«
Dance las schaudernd weiter. Travis hatte eine Nachricht an den Anfang des Blogs gestellt. Links davon befand sich eine grobe Skizze der Kreatur Qetzal aus DimensionQuest. Rund um das grausige Gesicht mit den zugenähten blutigen Lippen standen rätselhafte Zitate und Zahlen. Der Text der Botschaft war in großen fettgedruckten Buchstaben verfasst und sogar noch beunruhigender als das Bild. Er bestand fast nur aus Leetspeak.
> Ich m4ch 3uch F3RTIG! ich = SI3G3R, ihr = L00S3RI! ihr s3id 3RL3DIGT J3d3r Izelne von 3uch - gepost3t von TravisDQ
Dafür benötigte Dance keine Übersetzung.
Darunter war noch ein Bild zu sehen. Die unbeholfen kolorierte Zeichnung zeigte eine Frau, die auf dem Rücken lag und den Mund zu einem Schrei geöffnet hatte, während eine Hand ihr ein Schwert in die Brust stieß. Blut spritzte hervor.
»Dieses Bild ist ja widerlich, Jon.«
»Kathryn«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Fällt Ihnen an der Zeichnung irgendetwas auf?«
Dance sah genauer hin. Und erschrak. Das Opfer hatte bräunliches Haar, das zu einem Zopf gebunden war, und es trug eine weiße Bluse und einen schwarzen Rock. Am Gürtel der Frau gab es einen dunklen Fleck, bei dem es sich durchaus um ein Pistolenholster handeln konnte. Kathryn Dance hatte solche Kleidung getragen, als sie Travis am Vortag begegnet war.
»Bin ich das etwa?«, flüsterte sie.
Der Professor sagte nichts.
War das Bild schon älter? War es vielleicht ein Hirngespinst über den Tod eines Mädchens, von dem Travis sich irgendwann mal gekränkt gefühlt hatte?
Oder hatte er es heute gezeichnet, obwohl er sich auf der Flucht vor der Polizei befand?
Dance sah den Jungen plötzlich vor sich, wie er mit Blei- und Buntstiften über das Papier gebeugt dasaß und einen Tod aus der synthetischen Welt nachzeichnete, den er in der echten Welt umzusetzen hoffte.
Auf der Halbinsel Monterey ist der Wind allgegenwärtig. Meistens als kräftige Brise, manchmal schwach oder böig, aber nie ganz weg. Tag und Nacht wühlt er den blaugrauen Pazifik auf, der ungeachtet seines Namens niemals friedlich ist.
Einer der meilenweit windigsten Orte ist China Cove am südlichen Ende des Point Lobos State Park. Der kalte und unablässige Luftstrom lässt die Haut der Wanderer taub werden, und ein Picknick dort gestaltet sich schwierig, wenn man Papierteller und Pappbecher benutzen will. Sogar die Seevögel müssen sich anstrengen, um nicht fortgeweht zu werden.
Nun, kurz vor Mitternacht, ist der Wind unbeständig, schwillt an und ebbt ab und lässt immer wieder mit kraftvollen Böen graue Gischt aufspritzen.
Er rauscht durch die Straucheichen.
Er beugt die Kiefern.
Er drückt das Gras zu Boden.
Doch auf der dem Meer zugewandten Böschung des Highway 1 trotzt heute Nacht ein kleiner Gegenstand dem Wind.
Es ist ein etwa sechzig Zentimeter hohes Kreuz aus schwarzen Zweigen. In seiner Mitte befindet sich eine ausgefranste Pappscheibe. Sie trägt in blauer Schrift das morgige Datum. Vor dem Kreuz liegt, mit Steinen beschwert, ein Strauß roter Rosen. Hin und wieder fliegt ein Blütenblatt weg und wirbelt über die Fahrbahn. Doch
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