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Allwissend

Allwissend

Titel: Allwissend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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kurz vor Mitternacht.
    Zwei Geräusche mischten sich: der Wind, der durch die Bäume vor dem Schlafzimmerfenster strich, und die Brandung in anderthalb Kilometern Entfernung, die sich im Asilomar und entlang der Straße nach Lovers Point an den Felsen brach.
    Sie spürte die warme Berührung an ihrem Bein, und ein im Schlaf gleichmäßiger sanfter Atem kitzelte ihren Hals.
    Ihr selbst blieb der heilsame Schlaf jedoch verwehrt. Kathryn Dance war hellwach.
    Zahllose Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Manche gewannen kurzzeitig die Oberhand und drehten sich dann weiter, wie beim Glücksrad. Es ging meistens um Travis Brigham. In ihren Jahren als Gerichtsreporterin, als Beraterin bei der Geschworenenauswahl und schließlich als Ermittlungsbeamtin war Dance zu der Ansicht gelangt, dass ein Hang zum Bösen entweder genetisch bedingt sein konnte - wie bei Daniel Pell, dem Kultführer und Killer, den sie kürzlich noch gejagt hatte - oder im Laufe des Lebens erworben wurde, wie zum Beispiel bei J. Doe in Los Angeles, dessen mörderische Anwandlungen sich erst später gezeigt hatten.
    In welchen Abschnitt des Spektrums mochte Travis wohl gehören?
    Er war ein verstörter, gefährlicher junger Mann, aber er war gleichzeitig auch jemand anders, nämlich ein Halbwüchsiger, der sich danach sehnte, normal zu sein - eine reine Haut zu haben, von einem beliebten Mädchen gemocht zu werden. War es ihm seit seiner Geburt vorherbestimmt, ein Leben im Zorn zu führen? Oder hatte er wie jeder andere Junge angefangen, war dann aber durch die Umstände - seinen prügelnden Vater, den behinderten Bruder, das unvorteilhafte Aussehen, die zurückhaltende Art, die schlechte Haut - dermaßen ins Hintertreffen geraten, dass seine Wut nicht wie bei den meisten anderen wieder verflog, als wäre es ein morgendlicher Nebel gewesen?
    Einen langen, angespannten Moment lang hielten Mitleid und Abscheu sich bei ihr die Waage.
    Dann sah sie wieder Travis' Avatar vor sich, wie er sie anstarrte und das Schwert hob.
     
    > will 3cht I3rnen, w4s kannst du mir beibringen? wie man stirbt...
     
    Der warme Körper neben ihr bewegte sich leicht, und Dance fragte sich, ob sie durch winzige Muskelreflexe den Schlaf des anderen störte. Sie bemühte sich, regungslos zu bleiben, obwohl sie als Kinesik-Expertin wusste, dass das unmöglich war. Ob schlafend oder wach, solange unser Gehirn funktionierte, bewegten sich unsere Körper.
    Das Rad drehte sich weiter.
    Ihre Mutter und der Sterbehilfe-Fall erreichten die Spitzenposition. Dance hatte Edie gebeten, sie anzurufen, wenn sie wieder im Hotel war. Ihre Mutter hatte sich nicht gemeldet. Das tat Kathryn weh, aber es überraschte sie nicht.
    Dann drehte das Rad sich erneut und hielt beim Fall J. Doe in Los Angeles. Was würde die Immunitätsanhörung ergeben? Würde man sie noch einmal verschieben? Und wie ging es dann weiter? Ernie Seybold war gut. Aber war er gut genug?
    Dance wusste es wirklich nicht.
    Das wiederum ließ sie an Michael O'Neil denken. Sie verstand, dass es gute Gründe gab, aus denen er heute Abend nicht hatte kommen können. Aber dass er nicht mal angerufen hatte? Das sah ihm nicht ähnlich.
    Der Andere Fall...
    Dance lachte über sich selbst. Sie war eifersüchtig.
    Manchmal stellte sie sich vor, wie es wäre, mit O'Neil zusammen zu sein, hätte er nicht die grazile, exotische Anne geheiratet. Einerseits wäre das zu einfach. Sie hatten bei der Arbeit schon ganze Tage zusammen verbracht, und die Stunden waren wie im Flug verstrichen. Ihre angeregten Gespräche, der Humor. Doch sie waren bisweilen auch unterschiedlicher Meinung, stritten sich sogar. Aber Dance glaubte, dass ihre leidenschaftlichen Auseinandersetzungen nur umso mehr betonten, was sie gemeinsam hatten.
    Was auch immer das sein mochte.
    Ihre Gedanken wirbelten unaufhaltsam weiter.
    Klick, klick, klick...
    Zumindest bis sie bei Professor Jonathan Boling anhielten. Und das leise Atmen neben ihr zu einem leisen Röcheln wurde.
    »Okay, das reicht«, sagte Dance und drehte sich auf die andere Seite. »Patsy!«
    Die Retrieverhündin hörte auf zu schnarchen, wachte auf und hob den Kopf vom Kissen.
    »Auf den Boden«, befahl Dance.
    Patsy stand auf, schien zu begreifen, dass kein Futter oder Ballspiel für sie drin war, und sprang vom Bett, um sich zu ihrem Freund Dylan auf den abgewetzten Teppich zu gesellen, der ihnen als Schlafstelle diente.
    Jon Boling, dachte Dance. Dann beschloss sie, dass es womöglich besser war, nicht zu viel

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