Allwissend
die Runde schweifen und rechnete halb damit, ihre Mutter zu sehen. Dann erkundigte sie sich am Empfang nach der Zimmernummer und eilte einen Flur entlang zu dem Raum, in dem sie die Zeugin des Kreuz-Falls antreffen würde.
Als sie eintrat, hob das blonde Mädchen, das in dem komplizierten Krankenhausbett lag, den Kopf.
»Hallo, Tammy. Ich bin Kathryn Dance.« Sie lächelte. »Darf ich Sie kurz stören?«
Kapitel 5
Tammy Foster hätte in dem Kofferraum ertrinken sollen, doch ihrem Angreifer war ein Fehler unterlaufen.
Hätte er den Wagen ein Stück weiter vorn geparkt, wäre das Meer hoch genug gestiegen, um das komplette Fahrzeug zu fluten und das arme Mädchen zu einem schrecklichen Tod zu verdammen. Doch wie es sich zufällig ergab, blieb der Camry an Ort und Stelle im losen Sand stecken, und das Wasser füllte den Kofferraum nur fünfzehn Zentimeter hoch.
Gegen vier Uhr morgens sah ein Fluglinienangestellter auf dem Weg zur Arbeit das Schimmern des Wagens. Rettungssanitäter bargen die junge Frau, die vor Entkräftung halb bewusstlos und stark unterkühlt war, und fuhren sie schnellstens ins Krankenhaus.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Dance nun. »Ganz okay, würde ich sagen.«
Sie war von sportlicher Statur und hübsch, aber blass. Tammy hatte ein schmales, langes Gesicht, glattes, perfekt getöntes blondes Haar und eine vorwitzige Nase, die nach Kathryns Einschätzung nicht immer so gerade gewesen war. Ihr schneller Blick zu einer kleinen Kosmetiktasche verriet Dance, dass das Mädchen sich kaum jemals ungeschminkt in der Öffentlichkeit zeigen würde.
Dance zeigte ihren Dienstausweis vor.
Tammy schaute flüchtig hin.
»In Anbetracht der Umstände sehen Sie ziemlich gut aus.« »Es war so kalt«, sagte Tammy. »Ich habe noch nie im Leben so gefroren. Ich bin noch immer völlig durcheinander.«
»Das kann ich mir denken.«
Die Aufmerksamkeit des Mädchens richtete sich auf den Fernseher. Es lief eine Seifenoper. Dance und Maggie sahen sie sich gelegentlich an, meistens dann, wenn die Tochter krank war und nicht zur Schule gehen konnte. Auch wenn man monatelang aussetzte, verstand man die Handlung trotzdem sofort wieder.
Dance setzte sich, musterte die Ballons und Blumen auf einem nahen Tisch und hielt unwillkürlich Ausschau nach roten Rosen, religiösen Gegenständen oder Karten mit Kreuzen darauf. Da waren keine.
»Wie lange müssen Sie im Krankenhaus bleiben?«
»Ich komme wahrscheinlich heute schon raus. Vielleicht auch erst morgen, heißt es.«
»Wie sind die Ärzte? Niedlich?«
Ein Lachen.
»Auf welche Schule gehen Sie?« »Robert Louis Stevenson.« »Im Abschlussjahrgang?«
»Ab nächsten Herbst, ja.«
Damit Tammy sich wohlfühlte, plauderte Dance ein wenig mit ihr, erkundigte sich danach, ob sie Ferienkurse besuchte, auf welches College sie später gehen wollte, wie es ihrer Familie ging, welchen Sport sie trieb. »Haben Sie irgendwelche Urlaubspläne?«
»Jetzt ja«, sagte sie. »Nach diesem Vorfall. Meine Mutter, meine Schwester und ich werden nächste Woche meine Großmutter in Florida besuchen.« In ihrer Stimme schwang Verärgerung mit. Dance konnte erkennen, dass das Mädchen derzeit alles andere lieber wollte, als mit der Familie nach Florida zu fliegen.
»Tammy, wie Sie sich vorstellen können, wollen wir unbedingt herausfinden, wer Ihnen das angetan hat.«
»Dieses Arschloch.«
Dance nickte zustimmend. »Erzählen Sie mir, was passiert ist.« Tammy sagte, sie sei in einem Club gewesen und kurz nach Mitternacht gegangen. Auf dem Parkplatz habe jemand sie von hinten gepackt, ihr den Mund zugeklebt, Hände und Füße gefesselt, sie in den Kofferraum geworfen und dann zum Strand gefahren.
»Und da hat er mich einfach zurückgelassen, damit ich, na ja, ertrinken würde.« Der Blick des Mädchens war leer. Dance, die von Natur aus Einfühlungsvermögen besaß - ein Erbe ihrer Mutter -, konnte das Grauen am eigenen Leib spüren, ein Schauder, der ihr über den Rücken wanderte.
»Haben Sie den Angreifer gekannt?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Aber ich weiß, was los war.«
»Und zwar?« »Banden.«
»Er war in einer Gang?«
»Ja, davon hat doch jeder schon gehört. Um in eine Bande aufgenommen zu werden, muss man jemanden umbringen. Und wenn es sich um eine Latino-Gang handelt, muss das Opfer ein weißes Mädchen sein. So sind die Regeln.«
»Sie glauben, der Täter war ein Latino?«
»Ja, da bin ich mir sicher. Ich habe zwar sein Gesicht nicht gesehen, aber
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