Allwissend
Gewicht war gerade so an der Grenze.«
»Ich musste einen Zeugen vernehmen«, sagte O'Neil. »Kathryn hat Tyler und Ammie abgeholt.«
»Oh, vielen Dank. Mike hat gesagt, ihr habt den Fall gelöst. Den mit den Kreuzen am Straßenrand.«
»Vor ein paar Stunden. Es gibt noch eine Menge Papierkram zu erledigen, aber ja, es ist geschafft.« Dance wollte nicht länger darüber reden. »Was macht die Fotoausstellung?«
»Sie nimmt Gestalt an«, sagte Anne O'Neil, deren Frisur die Bezeichnung »Löwenmähne« verdiente. »Aber sie macht mehr Arbeit als das eigentliche Fotografieren.«
»Und in welcher Galerie?«
»Ach, bloß bei Gerry Mitchell. Südlich der Market Street.« Anne winkte ab, aber Dance nahm an, dass es sich um eine renommierte Galerie handelte. Was auch immer man Michaels Frau vorwerfen konnte, eine Angeberin war sie nicht.
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Mal abwarten, wie die Eröffnung wird. Und dann die Presseberichte.« Ihr hübsches Gesicht wurde ernst. »Das mit deiner Mutter tut mir leid, Kathryn«, sagte sie leise. »Es ist völlig verrückt. Wie geht es ihr?«
»Sie ist ziemlich durcheinander.«
»Dieser ganze Medienzirkus. Es kam sogar da oben in den Nachrichten.«
Zweihundert Kilometer entfernt? Nun, Dance hätte nicht überrascht sein dürfen. Nicht bei einem Ankläger wie Robert Harper, der wusste, wie man sich die Presse zunutze machte.
»Wir haben einen guten Anwalt.«
»Falls ich etwas für euch tun kann...« Die Enden von Annes Metallgürtel klingelten wie ein Windspiel in der Brise.
O'Neil beugte sich ein Stück über die Brüstung. »He, ihr beiden, eure Mutter ist da. Kommt her«, rief er.
»Können wir nicht noch ein bisschen bleiben, Dad?«, bettelte Tyler.
»Nein. Zeit für den Heimweg. Na los.«
Die Kinder kamen widerwillig angestapft. Maggie verteilte Muscheln. Dance war sicher, dass sie die schönsten den O'Neil-Kindern und ihrem Bruder schenkte.
Wes und Maggie stiegen für die kurze Fahrt zum Hotel in Dances Pathfinder. Sie würden wieder mal bei Edie und Stuart übernachten. Der Mörder war tot, sodass Dance sich nicht mehr persönlich bedroht fühlen musste, aber sie war felsenfest entschlossen, Travis lebend zu finden, und würde daher vermutlich bis spät in die Nacht arbeiten.
Auf halber Strecke zum Hotel fiel Dance auf, dass Wes still geworden war.
»He, junger Mann, was gibt's?«
»Ich hab mich nur was gefragt.«
Dance wusste, wie man wortkargen Kindern Einzelheiten entlockte. Man musste Geduld beweisen. »Was denn?« Sie war sicher, es hatte mit seiner Großmutter zu tun. Aber sie irrte sich.
»Kommt Mr. Boling wieder mal vorbei?« »Jon? Warum?«
»Na ja, morgen läuft Matrix im Fernsehen. Vielleicht kennt er ihn ja noch nicht.«
»Ich möchte wetten, er hat ihn schon gesehen.« Dance stellte immer wieder belustigt fest, dass Kinder davon ausgingen, sie wären die Ersten, die irgendeine Erfahrung machten, und frühere Generationen hätten ihr Dasein in beklagenswerter Unwissenheit und Entbehrung gefristet. Vor allem aber war sie überrascht, dass der Junge überhaupt diese Frage gestellt hatte. »Magst du Mr. Boling?«, hakte sie vorsichtig nach. »Nein... ich meine, er ist ganz okay.«
»Du hast gesagt, du magst ihn!«, petzte Maggie. »Du hast gesagt, er ist cool. So cool wie Michael.« »Hab ich nicht.« »Hast du doch!«
»Maggie, du liegst ja so was von daneben!«
»Genug jetzt!«, befahl Dance. Aber sie klang dabei amüsiert. Eigentlich hatte der Zank zwischen den Geschwistern sogar etwas Tröstliches, denn er bedeutete in dieser turbulenten Zeit ein Stück Normalität.
Sie trafen beim Hotel ein, und Dance stellte erleichtert fest, dass die Demonstranten das Versteck ihrer Eltern noch immer nicht herausgefunden hatten. Sie begleitete Wes und Maggie zur Tür des kleinen Hauses. Ihr Vater öffnete. Sie umarmte ihn und schaute hinein. Ihre Mutter telefonierte und schien ein ernstes Gespräch zu führen.
Dance fragte sich, ob ihre Schwester Betsey am anderen Ende der Leitung war.
»Habt ihr etwas von Sheedy gehört, Dad?«
»Nein, nichts mehr. Die Anklagevernehmung ist morgen Nachmittag.« Er strich sich geistesabwesend über das dichte Haar. »Ich habe gehört, ihr habt diesen Killer erwischt. Und der Junge war unschuldig?«
»Wir suchen gerade nach ihm.« Sie senkte die Stimme, damit die Kinder sie nicht hörten. »Ehrlich gesagt, er ist wahrscheinlich tot, aber ich hoffe das Beste.« Sie umarmte ihren Vater noch mal. »Ich muss jetzt
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