Allwissend
kein Ding.
Vergiss es.
Das Mädchen mit der schmalen Statur und dem dichten braunen Haar würde im nächsten Herbst ihr Abschlussjahr an der Highschool beginnen. Sie hatte einen Führerschein. Sie hatte am Maverick Beach gesurft. Sie würde mit ihrem Freund an ihrem achtzehnten Geburtstag einen Fallschirmsprung absolvieren.
Nein, Kelley Morgan war nicht leicht zu erschrecken. Nur vor einem fürchtete sie sich sehr. Vor Fenstern.
Die Angst stammte aus ihrer Kindheit, als sie ein kleines Mädchen von neun oder zehn Jahren gewesen war. Sie wohnte damals schon im selben Haus wie jetzt. Ihre Mutter las all diese überteuerten Einrichtungszeitschriften und hielt Vorhänge daher für völlig altmodisch und für eine Verunstaltung der klaren Linien ihres modernen Heims. Das war eigentlich nicht weiter schlimm, nur dass Kelley eine dämliche Fernsehsendung über den Yeti oder irgendein anderes Ungeheuer gesehen hatte. Eine Computeranimation hatte gezeigt, wie die Kreatur zu einer Hütte ging, durch das Fenster spähte und die Leute, die dort im Bett lagen, zu Tode erschreckte.
Es spielte keine Rolle, dass die Computergrafik alles andere als realistisch wirkte oder dass Kelley wusste, dass es solche Ungeheuer im wahren Leben nicht gab. Eine einzige Fernsehsendung hatte ausgereicht. Noch Jahre danach lag Kelley nachts schwitzend im Bett, weil sie sich die Decke über den Kopf gezogen hatte. Sie fürchtete sich davor, hinzusehen, denn wer konnte schon wissen, was sie erblicken würde? Sie fürchtete sich aber auch davor, nicht hinzusehen, denn dann würde es - was auch immer es war - sie überraschen, wenn es durch das Fenster kletterte.
Es gibt keine Geister, Zombies, Vampire oder Werwölfe, hielt sie sich immer wieder vor Augen. Aber sie würde bloß einen von Stephenie Meyers .Biss(s)-Romanen zu lesen brauchen und -peng - wäre die Angst wieder da.
Und Stephen King? Gar nicht dran zu denken.
Da sie inzwischen älter war und die Verschrobenheit ihrer Eltern nicht mehr im gleichen Maße akzeptierte wie früher, war sie zu einem Einrichtungshaus gefahren, hatte sich Vorhänge für ihr Zimmer gekauft und sie eigenhändig angebracht. Der Dekorfimmel ihrer Mutter konnte ihr gestohlen bleiben. Nachts zog Kelley die Vorhänge zu. Aber jetzt standen sie offen, denn es war mitten am Tag. Fahles Licht fiel ins Zimmer, und eine kühle Sommerbrise wehte herein.
Dann knackte es draußen schon wieder. Aus größerer Nähe als zuvor?
Das Bild dieser verfluchten Kreatur aus dem Fernsehen ließ sie einfach nicht los, genauso wenig wie die Angst, die sie packte. Der Yeti stand an ihrem Fenster und starrte, starrte. Ihr Magen tat weh, so wie damals, als sie eine flüssige Fastenkur ausprobiert hatte und dann wieder auf feste Nahrung umgestiegen war.
Knack...
Sie wagte einen weiteren Blick.
Die leere Fensteröffnung gähnte ihr entgegen.
Genug!
Sie kehrte an ihren Computer zurück und las einige Kommentare auf einer OurWorld-Seite. Es ging um das arme Mädchen von der Stevenson High, Tammy, das letzte Nacht überfallen worden war - o Gott, man hatte sie in einen Kofferraum geworfen und wollte sie ertrinken lassen. Es hieß, sie sei vergewaltigt oder zumindest begrapscht worden.
Die meisten der Beiträge waren mitfühlend. Manche jedoch waren grausam und widerten Kelley an. Einen von denen sah sie gerade vor sich.
> Okay Tammy wird wieder gesund Gott sei Dank. Aber ich muss wirklich sagen: IMHO ist sie selbst daran schuld, sie MUSS endlich lernen, nicht wie eine Schlampe aus den achtzigern rumzulaufen mit all dem Eyeliner und wo kriegt sie eigentlich diese Klamotten her? Sie WEIß doch was die Jungs denken, was hat sie erwartet???? - AnonGurl
Kelley schrieb sofort eine Erwiderung.
> OMG, wie kannst du so was sagen? Sie wurde fast getötet. Und jeder, der behauptet, eine Frau würde darum BITTEN, vergewaltigt zu werden, ist ein hirnloser LOOser. Du solltest dich schämen!!! - BellaKelley
Sie fragte sich, ob die ursprüngliche Posterin wohl antworten und sich wehren würde.
Und während sie noch vor dem Bildschirm abwartete, hörte Kelley von draußen schon wieder ein Geräusch.
»Jetzt reicht's«, sagte sie laut. Sie stand auf, ging aber nicht zum Fenster, sondern aus dem Zimmer und in die Küche, um von dort aus einen Blick in den Garten zu werfen. Aber da war nichts... oder doch? War da ein Schatten in dem Canyon hinter den Sträuchern am Ende des Grundstücks?
Außer Kelley hielt sich derzeit niemand im Haus
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