Allwissend
Tonfall der letzten Worte deutete auf einen heftigen Streit mit den Eltern hin.
»Welche Fächer haben Sie belegt?«
»Chemie und Biologie.«
»Eine gute Art, sich den Sommer zu ruinieren.« Caitlin lachte. »So schlimm ist es auch wieder nicht. Ich bin ganz gut in Naturwissenschaften.« »Wollen Sie mal Medizin studieren?« »Hoffentlich klappt's.« »Und wo?«
»Oh, das weiß ich noch nicht. Das Grundstudium wahrscheinlich in Berkeley, und dann mal sehen.«
»Das ist eine schöne Stadt. Ich war eine Weile dort.« »Ja? Was haben Sie studiert?« Dance lächelte. »Musik.«
Genau genommen hatte sie keinen einzigen Tag an der Universität von Berkeley verbracht. Sie hatte sich in der Stadt als Straßenmusikantin durchgeschlagen und zur Gitarre gesungen - und dabei ausgesprochen wenig Geld verdient.
»Wie kommen Sie mit allem zurecht?«, fragte Kathryn.
Caitlins Blick verfinsterte sich. »Nicht so toll«, murmelte sie. »Es ist alles so furchtbar. Der Unfall war schon schlimm genug. Aber dann noch die Überfälle auf Tammy und Kelley... das war schrecklich. Wie geht es ihr?«
»Kelley? Das wissen wir noch nicht. Sie ist immer noch bewusstlos.«
Eine der Freundinnen hatte mitgehört und rief: »Travis hat dieses Giftgas online gekauft. Von Neonazis oder so.« Wahr? Oder ein Gerücht?
»Caitlin, er ist verschwunden«, sagte Dance. »Er hält sich irgendwo versteckt, und wir müssen ihn finden, bevor er noch mehr Schaden anrichtet. Wie gut kennen Sie ihn?«
»Nicht besonders gut. Wir hatten ein oder zwei Fächer zusammen. Und ich habe ihn hin und wieder auf dem Korridor gesehen. Das ist alles.«
Plötzlich zuckte sie zusammen und schaute panisch zu einem nahen Gebüsch. Ein Junge kam von dort genau auf sie zu. Er sah sich um, hob einen Football auf und kehrte zu dem Spielfeld auf der anderen Seite des Dickichts zurück.
»Travis war in Sie verliebt, richtig?«, hakte Dance nach.
»Nein!«, sagte Caitlin. Und Dance folgerte, dass das Mädchen wirklich davon überzeugt war; der Anstieg der Stimmhöhe ist eines der wenigen Anzeichen, die auch ohne zuvor ermittelten Standard verlässlich Aufschluss geben.
»Nicht mal ein wenig?«
»Kann schon sein. Aber fast alle Jungs... Sie wissen doch, wie das ist.« Ihre Augen musterten Dance von oben bis unten - was hieß: In Sie waren die Jungen bestimmt ebenfalls ständig verliebt. Auch wenn das schon verdammt lange her sein dürfte.
»Haben Sie beide öfter miteinander geredet?«
»Manchmal über Hausaufgaben. Sonst nicht.«
»Hat er je von einem Ort erzählt, an dem er sich gerne aufhält?«
»Nicht wirklich. Ich meine, nicht im Einzelnen. Er hat gesagt, er kenne ein paar schöne Stellen. Hauptsächlich am Wasser. Das Ufer erinnere ihn an einige Orte in diesem Spiel, das er gespielt hat.«
Das war immerhin etwas: Er mochte das Meer. Vielleicht versteckte er sich in einem der küstennahen Naturschutzgebiete. Womöglich Point Lobos. Da hier ganzjährig milde Temperaturen herrschten, könnte er mühelos mit einem wasserdichten Schlafsack auskommen.
»Hat er Freunde, bei denen er unterschlüpfen könnte?«
»Ehrlich, ich kenne ihn kaum. Aber ich habe ihn nie in Gesellschaft irgendwelcher Leute gesehen, nicht wie bei meinen Freundinnen und mir. Er war praktisch die ganze Zeit im Internet. Ich meine, er war intelligent und alles. Aber die Schule hat ihn nicht interessiert. Sogar in der Mittagspause oder wenn wir lernen sollten, hat er sich einfach draußen mit seinem Computer hingesetzt und ist online gegangen, falls er sich in ein Signal einklinken konnte.«
»Fürchten Sie sich vor ihm, Caitlin?«
»Ja, klar.« Als wäre das offensichtlich.
»Aber Sie haben im Chilton Report oder sonst irgendwo nichts Schlimmes über ihn gepostet, oder?« »Nein.«
Weshalb war das Mädchen so verstört? Dance wurde aus Caitlins Emotionen nicht schlau. Sie waren extrem stark, mehr als bloße Angst. »Warum haben Sie nichts über ihn geschrieben?«
»Weil ich mir diese Threads gar nicht erst anschaue. Die sind totaler Mist.«
»Er tut Ihnen leid.«
»Ja.« Caitlin fummelte hektisch an einem der vier Ohrstecker auf der linken Seite herum. »Weil...« »Was?«
Caitlin war nun völlig aus der Fassung. Sie hielt die Anspannung nicht länger aus. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Weil ich daran schuld bin, was geschehen ist«, flüsterte sie.
»Wie meinen Sie das?«
»Der Unfall. Es ist meine Schuld.«
»Reden Sie weiter, Caitlin.«
»Sehen Sie, da war dieser Junge auf der
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