Allwissend
sondern fast schon Belustigung, dass sie sich zufällig hier getroffen hatten. »Ihre Mutter«, flüsterte er. »Wie konnte sie nur?«
Die Worte klangen einstudiert, als hätte er auf eine Gelegenheit gewartet, sie aufzusagen.
Dance wollte etwas erwidern, aber Julio legte keinen Wert auf eine Antwort. Er ging zu der Tür hinaus, die zum Hinterausgang führte.
Und das war alles.
Keine bösen Worte, keine Drohungen, keine Gewalt.
Wie konnte sie nur?
Die verwirrende Begegnung ließ Kathryns Herz bis zum Hals schlagen. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Mutter von einem früheren Besuch Julios erzählt hatte. Dance fragte sich, wieso er schon wieder hier war.
Mit einem letzten Blick auf das Absperrband verließ sie die Intensivstation und ging zum Büro des Leiters des Sicherheitsdienstes.
»Oh, Agent Dance«, sagte Henry Bascomb und sah sie verwundert an.
Sie lächelte zum Gruß. »Das Zimmer wurde versiegelt?« »Waren Sie etwa dort?«, fragte er.
Dance las aus seiner Körperhaltung und Stimmlage sofort eine starke Anspannung ab. Er dachte angestrengt nach und war verunsichert. Was hatte das zu bedeuten?
»Versiegelt?«, wiederholte sie.
»Ja, ganz recht, Ma'am.«
Ma'am? Dance hätte beinahe laut aufgelacht. Erst vor wenigen Monaten hatten sie, O'Neil, Bascomb und ein paar seiner früheren Polizeikollegen am Fisherman's Wharf einen Abend mit Bier und mexikanischem Essen verbracht. Sie beschloss, direkt zur Sache zu kommen. »Ich habe nur ein oder zwei Minuten, Henry. Es geht um den Fall meiner Mutter.«
»Wie verkraftet sie es?«
Ich weiß auch nicht mehr als Sie, Henry, dachte Dance. »Nicht so gut.«
»Bitte richten Sie ihr meine besten Wünsche aus.« »Das werde ich gern. Also, ich möchte die Angestellten- und Besucherlisten des Tages sehen, an dem Juan gestorben ist.«
»Sicher.« Wobei er das genaue Gegenteil meinte. Und es nach kurzer Überlegung auch sagte: »Die Sache ist nur, ich kann nicht.«
»Warum nicht, Henry?«
»Mir wurde gesagt, ich darf Ihnen nichts zeigen. Nichts Schriftliches. Wir sollen nicht mal mit Ihnen reden.« »Wer hat das angeordnet?«
»Die Geschäftsführung«, sagte Bascomb zögerlich. »Und?«, ließ Dance nicht locker.
»Nun ja, es war Mr. Harper, dieser Staatsanwalt. Er hat mit der Geschäftsführung gesprochen. Und mit dem Personalchef.«
»Aber diese Informationen unterliegen nicht der Geheimhaltung. Die Verteidigung hat ein Recht darauf.«
»Oh, das weiß ich. Aber er hat gesagt, Sie müssen es sich über Ihren Anwalt besorgen.«
»Ich will doch gar nichts mitnehmen, sondern nur einen Blick darauf werfen, Henry.«
Daran war absolut nichts Illegales. Und es würde letztlich auch keine Auswirkungen auf den Fall haben, denn die gewünschten Angaben mussten der Verteidigung zugänglich gemacht werden.
Bascombs Miene ließ erkennen, wie unangenehm diese Unterredung ihm war. »Das ist mir klar. Aber ich kann nicht. Nicht ohne gerichtliche Anordnung.«
Harper hatte das nur zu einem einzigen Zweck veranlasst: um Dance und ihre Familie zu schikanieren.
»Es tut mir leid«, sagte er verlegen.
»Nein, schon in Ordnung, Henry. Hat er Ihnen einen Grund genannt?«
»Nein.« Die Antwort kam zu schnell, und Dance merkte mühelos, dass er ihrem Blick auswich, was sonst nicht seinem Verhalten entsprach.
»Was hat er gesagt, Henry?«
Eine Pause.
Sie beugte sich zu ihm vor.
Der Wachmann senkte den Kopf. »Er hat gesagt... er hat gesagt, dass er Ihnen nicht traut. Und dass er Sie nicht mag.«
Dance setzte ein möglichst breites Lächeln auf. »Nun ja, wenigstens eine gute Nachricht, würde ich sagen. Er ist der letzte Mensch auf Erden, von dem ich gemocht werden will.«
Es war nun siebzehn Uhr.
Vom Parkplatz des Krankenhauses aus rief Dance im Büro an und erfuhr, dass sich bei der Suche nach Travis Brigham bisher so gut wie nichts Neues getan hatte. Die Highway Patrol und das Sheriff's Office konzentrierten sich bei der Fahndung auf die für Ausreißer und jugendliche Tatverdächtige herkömmlichen Orte und Informationsquellen: seine Schule, die Klassenkameraden und die Einkaufszentren. Theoretisch war es für die Verfolger von Vorteil, dass er nur ein Fahrrad zur Fortbewegung besaß, aber bis jetzt war er noch nirgendwo gesichtet worden.
Rey Carraneo hatte Travis' weitschweifigen Aufzeichnungen und Skizzen noch nichts Verwertbares entnommen, suchte aber weiter nach Hinweisen auf das Versteck des Jungen. TJ bemühte sich, den Ursprung der Maske zu
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