Allwissend
Einer der Mediziner zog das Sweatshirt des Mannes hoch. Der Täter hatte Strickland ein primitives Bild in den Rücken geritzt, eine Art Gesicht, bei dem es sich durchaus um die Maske handeln konnte. Qetzal, der Dämon aus DimensionQuest. Das war es vermutlich, was O'Neil in Gegenwart von Boling nicht hatte erwähnen wollen.
Dance schüttelte den Kopf. »Post mortem?«
»Ja.«
»Gibt es Zeugen?«
»Nein«, sagte einer der MCSO-Beamten. »Einen knappen Kilometer von hier ist diese große Straßenbaustelle. Die Leute dort haben die Schüsse gehört und uns verständigt. Aber gesehen hat niemand etwas.«
»Und wir haben keine ungewöhnlichen Spuren gefunden, Sir«, fügte einer der Kriminaltechniker hinzu.
O'Neil nickte. Gemeinsam kehrten er und Dance zu ihren Wagen zurück.
Dance sah Boling neben seinem Audi stehen, die Hände vor dem Bauch verschränkt, die Schultern leicht angehoben. Sichere Zeichen für innere Anspannung. Mordschauplätze haben diese Wirkung.
»Danke, dass Sie mitgekommen sind, Jon«, sagte sie. »Das war weit mehr, als ich eigentlich von Ihnen verlangen durfte. Aber es war hilfreich, Ihre Meinung zu hören.«
»Gern.« Er klang, als versuche er, möglichst gleichmütig zu tun. Sie fragte sich, ob er schon jemals an einem Tatort gewesen war.
Ihr Telefon klingelte. Im Display standen Charles Overbys Name und Nummer. Dance hatte ihn vorhin angerufen und von diesem Mord unterrichtet. Nun würde sie ihm eröffnen müssen, dass das Opfer nicht zu Travis Brighams Peinigern gezählt hatte, sondern ein unschuldiger Dritter gewesen war. Das würde noch mehr allgemeine Panik auslösen.
»Charles.«
»Kathryn, sind Sie am neuesten Tatort?« »Ja. Wie es scheint...«
»Haben Sie den Jungen gefasst?« »Nein, aber...«
»Nun, Sie können mir die Einzelheiten später berichten. Es gibt etwas Neues. Kommen Sie so schnell wie möglich her.«
Kapitel 20
»Das ist also die Kathryn Dance.« Eine große rötliche Hand umschloss ihre Finger, hielt sie so lange fest, wie es gerade noch schicklich war, und ließ wieder los.
Seltsam, dachte sie. Er hatte den Artikel nicht so betont, wie man erwarten würde. Nicht die Kathryn Dance. Eher wie: Das ist also die Beamtin.
Oder: Das ist der Stuhl.
Doch sie ignorierte die kuriose Bezeichnung, denn eine kinesische Analyse war derzeit nicht angebracht. Wie sich herausgestellt hatte, war der Mann kein Verdächtiger, sondern ein Mitarbeiter des obersten CBI-Chefs. Er hieß Hamilton Royce, war Mitte fünfzig, ähnelte einem ehemaligen Footballspieler, der Politiker oder Geschäftsmann geworden war, und arbeitete bei der Generalstaatsanwaltschaft: in Sacramento. Er kehrte zu seinem Platz zurück - sie befanden sich in Charles Overbys Büro -, und Dance setzte sich ebenfalls. Royce erklärte, er sei ein Ombudsmann.
Dance schaute zu Overby. Ihr Chef musterte Royce nervös und war ehrerbietig oder neugierig oder auch beides zugleich. Er dachte offenbar nicht daran, den Zuständigkeitsbereich oder Auftrag des Besuchers näher zu erläutern.
Dance war immer noch wütend darüber, wie sorglos - wenn nicht sogar hinterhältig - Overby sich bei der Unterstützung von Robert Harpers geheimer Inspektion der CBI-Akten verhalten hatte.
Na, weil sie unschuldig ist. Ihre Mutter würde niemandem etwas zuleide tun. Das wissen Sie doch...
Dance konzentrierte sich wieder auf Royce.
»Wir hören viel Gutes über Sie in Sacramento. Ihr Fachgebiet ist die Körpersprache, ja?« Der breitschultrige Mann mit dem dunklen zurückgekämmten Haar trug einen eleganten Anzug, dessen dunkelblaue Farbe an eine Uniform denken ließ.
»Ich bin eine normale Ermittlerin. Ich neige nur dazu, häufiger als die meisten anderen auf Kinesik zurückzugreifen.«
»Ah, da haben wir's, Charles, sie verkauft sich unter Wert. Ganz wie Sie gesagt haben.«
Dance lächelte vorsichtig und fragte sich, was genau Overby gesagt hatte und wie weit er sich aus dem Fenster lehnen würde, um einen seiner Leute zu loben. Es konnte ja immerhin zu einer Beförderung oder Gehaltserhöhung führen. Die Miene ihres Chefs blieb neutral. Wie schwer das Leben doch sein kann, wenn man unsicher ist.
»Sie können mich also ansehen und mir sagen, was ich denke«, fuhr Royce leutselig fort. »Nur weil ich meine Arme auf bestimmte Weise verschränkt habe, meinen Blick abwende und rot werde oder nicht. Na, welche Geheimnisse habe ich?«
»Ein bisschen komplizierter ist es schon«, entgegnete sie freundlich.
»Aha.«
In
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