Alma Mater
Hand, merkte, wie kalt sie war. »Eine Art periodische Gewalt – so sind sie eben. Vorigen Monat ist ihrer Schwester Georgia ein Packen Schindeln vom Dach gefallen, der Edward, ihren Vater, der soeben nach draußen gegangen war, knapp verfehlt hat. Sie sagte, sie sei mit dem Fuß ausgerutscht, als sie das Dach reparierte, aber das erklärt nicht, wieso der ganze Packen über Bord ging.«
»Er bewegt sich flink für einen alten Mann.« Jinx unterdrückte ein Lachen, weil Sissy direkt zu ihr hinsah und winkte.
»Auto fahren kann Sissy auch nicht«, steuerte Mignon bei.
»Das hab ich gesehen.« Chris fand ihren Besuch in Surry County noch unterhaltsamer, als sie erwartet hatte.
Frank sah auf die Uhr und flüsterte R. J. zu: »Schatz, ich rechne damit, daß Georgia und Edward uns in weniger als zehn Minuten zusammen oder getrennt mit ihrer Gegenwart beehren werden.«
»Ich frage mich, ob es eine gute Idee ist, ihnen einen Drink anzubieten.«
»Am besten einen doppelten.« Er küßte seine Frau auf die Wange und eilte sodann zu Sissy. »Sissy, jetzt setz dich erst mal hin und erzähl mir alles.« Er nahm ihren Arm und führte sie zu den Stühlen.
»Ich hab ihn erschossen. Ich hab ihn erschossen«, wehklagte sie zum hohen Himmel hinauf.
Mignon flüsterte Chris zu: »Sie schmiert ihre kahle Stelle mit Schuhcreme ein.«
»Und verwahrt einen Flachmann im Strumpf.« Vic überlegte, was sie tun sollte, um ihren Eltern beizustehen.
»Stützstrumpfhose.« Jinx lieferte genüßlich dieses Detail.
Chris fuhr sich mit der linken Hand durch die seidigen glatten Haare. »Ich glaube, da kommt noch jemand.« Sie wies mit dem Kopf zu der Abbiegung von der zweispurigen Straße in die Zufahrt.
Obwohl die Bäume die Sicht verdeckten und die Straße vierhundert Meter entfernt war, konnten sie in der Stille des Zwielichts das Dröhnen eines Motors hören.
»Ich hab ihn in den Hintern geschossen«, milderte Sissy ihre vorige Aussage ab. »Ich hab ihn gewarnt, hab über seinen Kopf gefeuert, aber…«
»Hat Poppy sein Testament wieder geändert?«
Sie nickte unter Tränen. Bevor sie dazu kam, auf einem der im Halbkreis aufgestellten Stühle Platz zu nehmen, hörte auch sie das Knattern eines großen V-8-Motors. Sie sah Chris an, stellte fest, daß sie sie nicht kannte und streckte die Hand aus. »Hallo, ich bin Sissy Wallace. Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, obwohl ich meinen Poppy mit Vogeldunst abgefüllt habe.«
Vic, die noch Chris’ Hand hielt, ließ sie los. Chris gab Sissy die Hand.
»Miss Wallace, der Vogeldunst läßt sich mit der Pinzette rauszupfen.« Mignon steuerte hilfsbereit diese Kenntnis bei.
»Ich hab das Zeug besorgt, um die Krähen zu bepfeffern. Hätte ich ’nen Funken Verstand, würde ich Yolanda eine Ladung verpassen. Bei Poppy darf die Kuh den Kopf zum Küchenfenster reinstecken. Ich hasse den Kuhgestank! Poppy kümmert das nicht, er füttert sie glatt mit Möhren.« Sissy gewann ihre Selbstsicherheit zurück. »Da kommt meine Schwester. Wie kann sie es wagen, sich blicken zu lassen. Georgia ist ein Fratz – O ja, ich könnte Geschichten erzählen über meine Schwester, bei der nie ein Haar verrutscht ist – von den zweien, die sie noch hat.«
Georgia und Edward entstiegen einem dicken weißen Cadillac.
»Du hast mich nie geliebt. Du liebst Georgia«, schrie Sissy.
»Georgia schießt nicht auf mich«, erwiderte ein stämmig gebauter, gesund aussehender Mann um die achtzig gelassen. Anfeindungen wirkten sichtlich verjüngend auf Edward Wallace.
»Nein, sie hätte dich fast mit Dachschindeln getötet.«
»Das war keine Absicht«, fauchte die herausgeputzte Georgia, deren Nagellack auf ihr blaßrosa Kleid abgestimmt war. »Du willst immer im Mittelpunkt stehen. Die Welt dreht sich um deinen Bauchnabel.« Georgia schob sich die Schildpattbrille auf die Nase.
»Sprich nicht mit mir, und ich sprech nicht mit dir.«
Piper, die fasziniert war von der menschlichen Unvernunft, sah schwanzwedelnd zu. Die Golden-Retriever-Hündin schnupperte in der Luft und runzelte die Augenbrauen.
R. J. kam mit einem Tablett voll starker Drinks zurück. Sie kannte jedermanns Vorliebe. Edward bevorzugte Scotch – Johnnie Walker Black mit Eis. Georgia, die vorgab, nur zur Gesellschaft mitzutrinken, hatte eine Schwäche für WodkaMartini. Sissy trank alles, was man ihr vorsetzte, aber am liebsten Margarita.
Die Wallaces
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