Alma Mater
auf, aber hinterher sagen sie dir nicht, wie miserabel du es gemacht hast. Deine Eltern lieben dich. Bei euch zu Hause sein, das ist, ich weiß nicht, es ist wie atmen können.«
Vic hörte zu, sie wußte nicht recht, wie sie reagieren sollte. »Du kannst uns jederzeit besuchen kommen.«
Chris warf den Kopf hin und her; ihre Haare flogen herum und fielen dann wieder zurück. Sie waren noch ein bißchen naß. »Denkst du jemals über das Morgen nach? Wer du sein wirst und was du tun wirst?«
»Manchmal. Vor allem, was ich tun werde. Du?«
Chris zuckte mit den Achseln. »Ab und an. Manchmal schalte ich ab und manchmal schalte ich an. Ich hab’s satt, mir von allen sagen zu lassen, daß ich das ganze Leben noch vor mir habe. Woher wissen die das? Keiner weiß es. Ich schon gar nicht.«
Vic lächelte. »Ich vermute, es würde uns den Spaß verderben, wenn wir’s wüßten.«
»Oder den Schrecken nehmen.«
»Ich hab keine Angst.«
»Echt?« Chris, die oft innerlich angespannt war, wunderte sich, wieso Vic das sagen, wieso sie das fühlen konnte.
»Was passieren wird, wird passieren. Man macht sich und alle anderen verrückt, wenn man versucht, es zu ändern. Ich finde, man muß das Leben akzeptieren. Und sich selbst.«
»Sich selbst akzeptieren ist vermutlich das Schwerste. Die eigenen Grenzen akzeptieren.«
Vic betrachtete Chris’ Mund, einen schön geformten Mund mit fein gezeichneten Lippen. »Sich selbst akzeptieren, das ist es vielleicht, was ein gutes Leben ausmacht. Was man kann, erkennt man nur, wenn man weiß, was man nicht kann.«
»So hab ich das nie gesehen.« Chris lehnte sich wieder an die Armlehne des Sofas. »Die Menschen leben ihr ganzes Leben ohne zu wissen, was sie können. Sie lassen sich treiben. Ich würde verrückt dabei.«
Vic lachte sie aus. »Das ist es nicht wert. Nichts ist es wert, deswegen verrückt zu werden.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Ja. Ganze Gesellschaften wurden zerstört, ohne daß die Menschen verrückt wurden. Einige vielleicht, aber die meisten nicht. Rußland. Frankreich während der Revolution. Der Erste Weltkrieg hat eine ganze Weltordnung hinweggefegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten die Völker in Europa und Japan in Trümmern. Aber sie lebten.«
»Siehst du, das ist der Vorteil, wenn man Geschichte als Hauptfach hat. Wer Englisch als Hauptfach hat, liest die Romane, die aus diesen Kriegen entstehen. Da ist natürlich jeder elend oder entfremdet oder sonst was. Vielleicht werden nur unglückliche Menschen Schriftsteller.«
»Nee. Chaucer. Shakespeare. Ich hab Englisch nicht als Hauptfach, aber ich denke, es gibt unglückliche und glückliche Menschen. So ist das Leben. Da kann man seine Zeit ebenso gut mit den Glücklichen verbringen. Sie sind überall zu finden – sogar in Luftschutzkellern in England während des Blitzkriegs.«
»Was macht dich glücklich?«
»Neue Klamotten.« Vic lächelte. »Die neuen Sachen, die du mir gekauft hast.«
»Das ist einfach.«
»Der Fluß. Piper. Meine Familie. Und was macht dich glücklich?«
Chris fiel auf, daß Vic Charly nicht erwähnt hatte. Sie ließ es dabei bewenden. »Schöne Dinge. Ordnung. Schöne Menschen. Du.« Sie wurde rot.
Ein Gefühl, fast wie Verlangen, ließ Vic zusammenzucken. Sie hörte das gern. Sie war gern mit Chris in einem Zimmer mit Kerzenbeleuchtung, wollte Chris berühren. Wäre Chris ein Mann gewesen, dann hätte sie gewußt, was zu tun war. Sie wollte ihr nicht zu nahe treten. Aber sie traute ihrem Instinkt, und ihr Instinkt sagte ihr, daß Chris sie so sehr begehrte wie sie Chris.
Chris zog die Beine unter sich und drehte sich zu Vic hin. »Ich glaub, die Wäsche ist fertig.« Sie hielt inne. »Aber das ist mir schnuppe.«
Chris rutschte zu Vic, lehnte sich an ihre hochgezogenen Knie, beugte sich zu ihr vor und küßte sie auf den Mund.
Obwohl sie erschrak, erwiderte Vic den Kuß. Sie legte die Hände auf Chris’ Schultern, schlang die Beine um Chris, zog sie zu sich hoch. Sie küßten sich eine halbe Stunde lang.
Chris biß Vic in den Hals, sie schob ihre Hand unter den neuen grünen Pullover, fühlte den festen Bauch, die dünne Linie zwischen den Bauchmuskeln. Sie bewegte sich hoch zu Vics Brüsten.
Vic stöhnte. »Du machst mich verrückt.«
»Hast du nicht gesagt, nichts ist es wert, verrückt zu werden?« Chris biß Vic sanft in die Lippe.
»Ich nehm’s zurück.« Vic zog
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