Almas Baby
Renate empfindlich reagierte. Völlig unverständlich. Oder etwa nicht? Charly hatte keine Lust, ausgerechnet jetzt darüber nachzudenken. Morgen war auch noch ein Tag. Während er das dachte und es sogar halblaut in sein Kissen murmelte, grinste er vor sich hin. Die typische Ausrede für Fatalisten. War er einer? Auf jeden Fall war er hundemüde und wenige Minuten später eingeschlafen.
Auch Katja Storm schlief. Man hatte ihr eine Beruhigungsspritze gegeben, nachdem sie den ganzen Tag über kaum im Bett zu halten war. Sie lief weinend durch die Krankenhausflure, so als erwarte sie, in irgendeiner versteckten Ecke ihr Kind zu finden. Selbst ihr Mann konnte sie nicht beruhigen. Gegen Abend schien auch er an der Schwelle zur absoluten Erschöpfung angelangt zu sein. Der Chefarzt schickte ihn nach Hause: „Sie müssen sich ausruhen. Hier können Sie im Augenblick nichts tun. Wir möchten Ihre Frau durch Medikamente ruhig stellen, damit sie uns nicht zusammenklappt. Aber auch Sie müssen wieder zu Kräften kommen. Wir brauchen Sie morgen.“
Jens Storm ging widerstrebend nach Hause. Ihm graute davor, seiner Schwiegermutter, die dort den behinderten David betreute, erklären zu müssen, wie alles gekommen war. Er wusste es doch selbst nicht. Katja machte sich heftige Vorwürfe, dass sie der angeblichen Lernschwester so bedenkenlos den Säugling überlassen hatte. Und selbst Jens dachte manchmal: Wie hatte sie das nur tun können? Kam ihr das denn nicht merkwürdig vor? Hatte sie nie daran gedacht, mit ins Untersuchungszimmer zu gehen, wo Friederike angeblich noch einmal von einem Arzt begutachtet werden sollte?
Aber dann rief er sich selbst zur Ordnung. Wie konnte er nur Katja die Schuld geben? Sie hatte doch schon während ihrer Schwangerschaft genug gelitten. All die Zweifel, die erst mit der Geburt von Friederike geschwunden waren. Ein gesundes Baby. Sie schienen auf einmal das Glück gepachtet zu haben. Und nun? Die Polizei würde alles tun, damit sie ihr Kind zurückbekämen. Man durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Bisher seien alle entführten Babys gesund aufgefunden worden, hatte ihm der Kommissar versichert. Und wenn dieser Fall nun die große Ausnahme wäre? Nach dieser Frage von Jens hatte der Kommissar ausgesprochen ratlos gewirkt. Man sah ihm an, dass er auch schon an diese letzte schreckliche Möglichkeit gedacht hatte. Sie war nicht ausgeschlossen. Konnte niemals ausgeschlossen werden.
Kapitel 10
Emilio, der Besitzer des kleinen Hotels in Malcesine am Gardasee sprach Deutsch und freute sich, deutsche Gäste zu haben. Er hatte lange in Gelsenkirchen gearbeitet und sich als Kellner in einer Pizzeria das Geld verdient, mit dem er sich das Hotel kaufen konnte. Es war noch viel zu renovieren: den maroden Stromkreislauf beispielsweise, der immer in einen Kurzschluss mündete, wenn am Morgen irgendjemand von den Gästen es wagte, einen Elektrorasierer oder einen Föhn zu benutzen. Licht einschalten - das war okay, aber alles andere schon der pure Luxus. Imponderabilien, mit denen man halt zur Zeit noch leben musste. Die Lage des schmalbrüstigen, mehr in die Höhe strebenden Hauses entschädigte für alles. Sie relativierte selbst den penetranten Chlorgestank, der sich durch die Kanalisation ins Hotel und dort in jeden Winkel des Gebäudes schlich. Emilios Devise: Man gewöhnt sich an alles. Aber nicht unbedingt an den traumhaften Seeblick von der verglasten Terrasse aus, in der der Speisesaal untergebracht war. Quasi über dem Wasser. Der wirkte immer wieder aufs Neue sensationell. Vor allem am Abend, wenn die Lichter von Limone über den See funkelten und die Scheinwerfer-Schlange der Autos entlang der Bergstraßen wie ein silbernes Band vorüber zog.
Hier saßen Alma und Berthold gerne noch stundenlang nach dem Abendessen. Man musste nicht viel reden. Nur genießen. Das Zusammensein, den Ausblick, das Essen, den Wein. Eine Hochzeitsreise wie im Bilderbuch, dachte Alma. Sie war schwanger - und glücklich, wenn sie am Arm von Berthold nach dem Essen noch durch den quirligen Ort bummelte und direkt vor dem Hotel auf dem Markt von Malcesine einen Absacker trank. Müde aber glücklich. Die täglichen Fahrradtouren über die Bergstraßen waren ganz schön anstrengend. Sie fielen ihr deutlich schwerer als Berthold, aber das hätte sie ums Verrecken nie zugegeben. An diesem Abend war sie besonders geschafft. Die Muskeln ihrer Oberschenkel schienen sich verhärtet zu haben. Sie spürte ein leichtes Ziehen im
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