Almas Baby
um den Kopf. Man war von ihr gewohnt, dass sie sich immer schon alternativ - um nicht zu sagen auffällig - zu kleiden pflegte. Es würde also niemandem etwas Besonderes an ihr auffallen. Die kleine flache Plastikschachtel mit den vielen kleinen Fächern für die einzelnen Pillen verstaute sie tief unten in ihrer riesigen Ledertasche. Im Rausgehen überkam sie einen Augenblick lang die Versuchung, mit ihrem heiß geliebten englischen Sportwagen ins Präsidium zu brettern, aber Zarah war eine vernünftige Frau. Autofahren unter dem Einfluss starker Medikamente - das war etwas, was sie sich nicht zugestand. Obwohl sie sich heute ungewöhnlich frisch fühlte. Es gab Tage, an denen sie durchaus vergessen konnte, dass ihre Zeit begrenzt war. Weiter leben, als wenn nichts wäre. Das war ihr anfangs unendlich schwergefallen. Aber es wäre doch gelacht, wenn ausgerechnet eine Psychotherapeutin das nicht fertig brächte.
Sie ließ ihr Taxi ein paar Schritte vor dem Präsidium halten. Sie kannte Charly. Der würde wie immer unruhig am Fenster stehen und mitbekommen, dass sie nicht im eigenen Auto vorfuhr. „Na und?“, dachte sie, als sie die Auffahrt hinauf ging. Er würde es ja doch merken. Und außerdem: Selbst der flotteste Flitzer muss mal in die Werkstatt. Eine Ausrede, die sich förmlich aufdrängte. Und so klopfte sie denn munter bei Corinna Hase an die Vorzimmertür. Wenige Minuten später lagen sich die beiden Frauen in den Armen: „Mensch Häschen,“ japste Zarah. „Drück mich nicht tot. Sonst haben wir nichts von unserem unverhofften Wiedersehen. Hoffentlich lässt uns der Sklaventreiber da drinnen Zeit genug für einen vernünftigen Plausch.“
„Da ist er schon“, kündigte Häschen an, löste sich aus Zarahs Armen und machte sich daran, frisches Wasser in die Kaffeemaschine zu füllen.
„Hey Charly“, flachste Zarah. „Immer noch derselbe Anzug. Muss Super-Qualität sein. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Zehn Jahre, 15 Jahre?“
Charly grinste: Da war sie wieder, inzwischen 68 Jahre alt, ein wenig schmal geworden, aber ansonsten die alte Zarah. Der Paradiesvogel mit dem untrüglichen Gespür für psychische Zusammenhänge. Wenn ihnen jemand weiter helfen konnte, dann war sie es. Beim Kaffee machte Charly sie mit den Zusammenhängen vertraut. Ihre Zwischenfragen waren kurz und professionell: „Seid ihr sicher, dass ihr mit Alma Behrend die richtige Entführerin verfolgt?“
„Sagen wir es mal so: Wir können es zurzeit noch nicht beweisen. Eigentlich sind wir nur durch die Leiche einer alten Frau und die Vermisstenanzeige von Almas Ehemann auf sie gestoßen. Einen sicheren Beweis, dass sie ihrem Mann ein fremdes Baby unterjubeln wollte und nun in Panik mit dem Kind geflüchtet ist, haben wir nicht. Es gibt allerdings viele Indizien“, dozierte Hammer-Charly. „Ihr merkwürdiges Verschwinden, die seltsame Geschichte von der angeblichen Spontangeburt, die früheren Aborte. Und außerdem: Die Spur zu ihr ist die einzige, die wir überhaupt haben.“
„Okay“, meinte nun auch Zarah, „dann müssen wir uns mit der Person Alma Behrend beschäftigen. Was wisst ihr über diese Frau?“
Zarah machte sich eifrig Notizen, während der Hauptkommissar sie über den Stand der Ermittlungen aufklärte. „Nun“, gab die Psychiaterin anschließend zu bedenken, „es ist immer noch möglich, dass ihr einem Phantom nachjagt. Alma Behrend könnte mit dem Baby zu Eltern, Freunden oder Verwandten gegangen sein, weil sie Streit mit ihrem Mann hatte. Vielleicht wollte er das Kind ja gar nicht und die Ehe steckt in einer Krise.“
„Haben wir alles gecheckt,“ mischte sich Volker Lauer ein, der bei Zarahs Analyse des Ermittlungsstandes das Büro betreten hatte. Charly machte die beiden miteinander bekannt. Er war gespannt, wie sein Vize auf die von ihm so geschätzte Expertin und ihre Rückschlüsse reagieren würde. Sozusagen als neutrale Instanz. Lauer berichtete von seinem Besuch bei Berthold Behrend, dessen Behauptung, dass Alma als ehemaliger Junkie keine Freunde habe und fügte hinzu, was die Kripo im Elternhaus der jungen Frau erfahren hatte: kein Kontakt mehr - seit Jahren. „Die soll bleiben, wo der Pfeffer wächst“, hatte Almas Mutter gesagt. Und ihr Vater drückte sich noch rigoroser aus: „Ich habe keine Tochter mehr. Ich würde sie aus dem Haus prügeln - selbst wenn sie auf den Knien angekrochen käme.“
„Wenn Alma Behrend tatsächlich eure Entführerin ist, liegt hier der
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