Almas Baby
lassen, verschwieg jedoch, dass er Jude war oder behauptete zumindest, es nicht zu wissen. Und dieses Geheimnis bewahrte sie vor jedermann. Auch vor ihrer Tochter. Wohl verbrämt durch die Geschichte von dem ungetreuen Erzeuger und den Gag mit dem Lied der Zarah Leander.
„Erst ganz kurz vor ihrem Tod hat meine Mutter mir erzählt, wie es damals wirklich war. Mein Vater war ein Mann, der sich für diejenigen, die er geliebt hatte, aufopferte und einsam in den Tod ging. Ein Mann, den ich zeitlebens zu Unrecht verachtet hatte. Meine Mutter meinte, sie hätte mir durch ihre Lügen das Leben erleichtert. Das mag ja auch sein, solange ich noch ein Kind war und der Nationalsozialismus regierte, aber danach? Ich hatte niemals Gelegenheit, nach meinem Vater zu suchen, mich mit seinem Schicksal auseinander zu setzen bevor es zu spät war. Sie hat ihm seine Identität genommen und damit auch mir die meine.“
Volker Lauer wusste nicht, was er sagen sollte. Er nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse und fragte: „Haben Sie gar keine Ahnung, was aus Ihrem Vater geworden ist? Hat er vielleicht überlebt, und wenn ja, hat er denn nicht nach Ihnen gesucht?“
Zarah Silbermann zuckte mit den Achseln: „Woher soll ich das wissen? Ich hatte ja bis vor einem Jahr keinerlei Anlass anzunehmen, dass ich einen Vater gehabt habe, dem auch nur irgendetwas an mir gelegen haben könnte. Mein Vaterbild hatte ganz andere Konturen.“
„Glauben Sie, dass es nun zu spät ist, nach Ihrem Vater zu suchen?“, fragte Lauer.
„Mit Sicherheit. Wenn er überhaupt überlebt haben sollte, wäre er jetzt ein uralter Mann oder vermutlich längst in Freiheit gestorben. Vielleicht hat ihm ja das Schicksal sogar am Ende eine Familie beschert, die ihn nicht so verraten hat, wie wir es getan haben. Es wäre schön, daran glauben zu können.“
„Sie haben ihn nicht verraten“, widersprach Lauer. „Ja, ich weiß. Nur so ganz freisprechen kann ich mich auch nicht. Warum habe ich die Zarah-Leander-Story so bereitwillig geglaubt? Meine Mutter hat sie erfunden, weil sie uns schützen wollte. Das war auch im Sinne meines Vaters. Aber, dass sie sich auch nach dem Krieg weiter hinter der Lüge versteckt hat, kann ich ihr nicht verzeihen. Nicht mein Vater hat mich im Stich gelassen, sondern sie. Wenn mir trotz meiner Krankheit noch genügend Zeit bleiben sollte, werde ich nach Buchenwald fahren. Ich habe noch nie ein KZ besucht, obwohl eines davon mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für meinem Vater die Endstation seines damals noch jungen Lebens war.“
„Warum glauben Sie, dass es gerade Buchenwald war?“, fragte Volker Lauer.
„Ich weiß es nicht, aber wir haben damals in Weimar gewohnt und da ist anzunehmen, dass sie ihn ins nächstgelegene Lager schickten. Und auch von Dortmund aus wurden viele sogenannte Staatsfeinde ins KZ Buchenwald verschleppt.“ Zarah schenkte Kaffee ein. So, als brauche sie irgendeine Tätigkeit, an die sie sich klammern könne. Es dauerte ein paar Minuten, bevor sie fortfuhr: „Obwohl - wissen kann man das nicht. Aber das spielt für mich auch keine Rolle. In Buchenwald waren zwischen 1937 und 1945 sage und schreibe 250 000 Menschen inhaftiert, darunter 11 000 Juden. 28 000 Häftlinge wurden auf die sogenannten Todesmärsche geschickt, als die SS das Lager räumte. Es ist gleichgültig, ob mein Vater unter ihnen war. So oder so - er war einer der ihren - dort oder anderswo. Wenn meine Mutter nicht so lange geschwiegen hätte, wäre es mir vielleicht sogar möglich gewesen, das Schicksal meines Vaters aufzuklären - falls er tatsächlich in Buchenwald war. Ich habe im Internet recherchiert und bei Wikipedia die Geschichte des Journalisten Walter Poller gefunden. Ein Widerstandskämpfer, der als Häftling 996 im berüchtigten Medical-Block 36 des Lagers inhaftiert war. Er hat überlebt und ging als „Arztschreiber in Buchenwald“ - so der Titel seiner später veröffentlichten, leidvollen Erlebnisse - in die Geschichte dieser grauenvollen Epoche ein. Eine Zeit, in der er die Leichen im Lager quasi katalogisieren musste. Ich hätte ihn nach dem Krieg leicht fragen können, denn er war von 1946 bis 1961 hier in Dortmund Chefredakteur der Westfälischen Rundschau, bevor er aus gesundheitlichen Gründen seinen Beruf aufgeben musste. Er zog zu seinem Sohn nach Hagen und ist dort 1975 verstorben. Vielleicht hätte er ja zufällig gewusst, was aus meinem Vater geworden ist - falls der damals einer seiner
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