Almas Baby
erzählt doch mal.“ Charly ließ sich zurück in seinen Schreibtischsessel fallen: „Ach ja, so ein Jungspund wie du hat ja keine Ahnung. Also los. Zarah wird dich aufklären. Sie kann nämlich gut erzählen und hat dazu noch ein ausgezeichnetes Gedächtnis.“
„Na gut. Aber Häschen soll auch dabei sein und Kaffee mitbringen,“ forderte Zarah. Und nachdem dann alle zusammensaßen, begann sie mit ihrem Bericht. Die ihr eigene Art des Erzählens machte daraus eher eine spannende Geschichte denn ein nüchternes Referat:
„Ein Samstag wie jeder andere. Feierabendstimmung am Borsigplatz. In einem Imbiss hocken am Nachmittag des 8. Mai 1982 ein paar Leute zusammen. Und dann erscheint eine junge Frau, die Fragen stellt. Sie sorgt sich um ihre Schwester - eine lebenslustige 21-Jährige, die hier jeder kennt. Sie macht die Tür nicht auf, hinter der ihr Baby weint und hat sich auch am Telefon nicht gemeldet. Am Borsigplatz ist man hilfsbereit. Kurze Zeit später wird die Wohnungstür aufgebrochen, und dann stehen die Schwester und mehrere Anwohner vor einer ans Bett gefesselten Leiche. Im Bettchen nebenan der Säugling. Wer hat seine Mutter vergewaltigt und getötet?“
Eine dramaturgisch geschickt platzierte Pause. Dr. Silbermann nahm einen Schluck Kaffee und fuhr fort: „Eine Frage, die bis heute nicht beantwortet ist - obwohl zwischen damals und heute nicht nur 29 Jahre liegen, sondern auch ein Schwurgerichtsprozess, der sieben Monate andauerte, Rechtsgeschichte am Landgericht Dortmund schrieb und am 18. Mai 1989 mit einem Freispruch für den damaligen Angeklagten endete. Auf der Anklagebank hatte einfach der falsche Mann gesessen. Wie es dazu kommen konnte, dafür liefert der amerikanische Psychoanalytiker Theodor Reik in seinem Buch über den unbekannten Mörder eine interessante These. Er behauptet, es sei keineswegs so, dass die Menschen die Wahrheit gar nicht finden wollten. Die größte Hürde, über die Kriminologen und Strafermittler immer wieder stolperten, sei die falsche Überzeugung, die Wahrheit bereits zu besitzen.
Und genau das war hier der Fall. Von Anfang an hatte die Mordkommission einen Studenten in Verdacht, der im Haus des Opfers wohnte. Und obwohl eigentlich gegen ihn nicht mehr sprach als die Tatsache, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort war und kein Alibi hatte, wurde konsequent gegen ihn ermittelt. Sieben Jahre lang nur gegen ihn, sodass im Laufe der Zeit alle anderen Spuren längst verwischt waren. Dabei hatte es sie durchaus gegeben: Hinweise auf Bedrohungen, von denen das spätere Opfer Freunden berichtet hatte. Anrufe, auf die die junge Frau in Gegenwart von Zeugen panisch reagierte. Fremde, die im Haus auffielen. Und nicht zuletzt die Ausführung der Tat. Die 21-Jährige war an alle vier Bettpfosten gefesselt, vergewaltigt und mit neun Messerstichen erdolcht worden. Ihre Leiche wurde kunstvoll dekoriert. So waren beispielsweise die Haare mit ihrer in Streifen gerissenen Strumpfhose verflochten und drapiert. Eine Tat, die deutliche Züge eines Ritualmordes aufwies. Das alles wurde jahrelang außer Acht gelassen und ausschließlich gegen den Studenten ermittelt. Zunächst allerdings auch ergebnislos, bis eines Tages am Rechtsmedizinischen Institut der Universität Münster die Laser-Mikrosonden-Massenanalyse entwickelt wurde. Ein Verfahren, das noch ein Zwölftausendstel einer Stofffaser sichtbar machen konnte. Und Fasern gab es natürlich - sowohl im Umfeld der Toten als auch beim Verdächtigen. An der Innenseite einer seiner Hosen entdeckten die Ermittler beispielsweise einen angeblichen Hinweis auf direkten Kontakt zum Opfer. Mit bloßem Auge nicht sichtbar: ein Zwölftausendstel einer pinkfarbenen Faser von einem Kleidungsstück der Toten. Das Landeskriminalamt warnte zwar ausdrücklich vor voreiligen Rückschlüssen, denn schließlich können Fasern in einer Hausgemeinschaft auch bei ganz normalen Begegnungen übertragen werden, aber Kripo und Staatsanwaltschaft feierten ihren Triumph. Weihnachten 1987 wurde der Student unter dem Verdacht des Mordes inhaftiert.“
„Aber gab es denn keine Sperma-Spuren bei diesem Mord, der doch offenkundig ein Sexualverbrechen war?“, wollte Volker Lauer wissen. „Klar gab es auch die“, antwortete Dr. Silbermann, „aber sie dürfen die Zeit nicht vergessen. Zwar hatte das Londoner Celmark-Institut in der Zwischenzeit den sogenannten genetischen Fingerabdruck entwickelt, aber diese Möglichkeit schien zunächst für die Klärung
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