Alpenlust
erzählt.«
Der Bus kam. Hielt vor ihrer Nase, aber dennoch so, dass sie fünf Meter gehen mussten, um vorn einsteigen zu können. Hinten wurde ihnen nicht aufgemacht. Am Bussteuer saß eine Frau mittleren Alters, die so lange böse geschaut hatte, dass es sich in ihr Gesicht eingegraben hatte. »Vorn einsteigen«, begrüßte sie die drei neuen Fahrgäste, und: »Haben Sie Fahrausweise?«
Fahrausweise, Fahrausweise: Woher sollten sie jetzt auf einmal Fahrausweise haben? Sie waren seit Tagen auf der Flucht.
»Wir haben keine.«
»Wohin soll’s denn gehen?«
»Innenstadt.«
Das wäre der Zeitpunkt gewesen, die Pistole zu ziehen und aus der kleinen Affäre eine größere zu machen. Ben zog den Geldbeutel und zahlte für seine Freunde mit. Sie setzten sich auf einen freien Vierersitz, wobei alle Vierersitze frei waren, nur ganz hinten, vorletzte Bank, saß ein junger Mann, Jeansjacke, Oberlippenschnauzer, ein bisschen blass, ein bisschen alkoholisiert, wahrscheinlich arbeitslos. Der musterte die Gruppe skeptisch, die kannte er vielleicht irgendwoher, dann sank sein Interesse, er schaute hinaus auf die Gegend zu seiner Linken, die unspektakulär vorbeirauschte.
Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr füllte sich der Bus. Alle Sitzplätze waren besetzt, in ihre Vierergruppe drängte sich ein stinkendes altes Männlein. Man wollte wenig miteinander zu tun haben, mied Blickkontakt, soweit es ging, half Müttern mit Kinderwägen nicht aus Nächstenliebe, sondern um sie möglichst schnell aus dem Blickfeld zu bekommen. Neben Birne stand ein Mädchen, das sich bei jeder Kurve verdächtig weit über ihn beugte. Als er aufblickte, sah er, dass sie ihm gefiel und dass sie ihrerseits eilig einen Punkt auf der Straße fixierte, der wiederum davonflitzte. Zu jedem anderen Zeitpunkt …
Dann kam ein angefressener Herr zehn Jahre vor seiner Pensionierung, vom Äußeren eindeutig dem rechten Rand nahestehend. Er quetschte sich zwischen den anderen Menschen, die ächzend dagegen protestierten, vorbei an die drei heran. Er prüfte sie ganz genau und schlich sich dann vorsichtig an: »Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche.« Bereits Bens auf ihn gerichteter Blick ließ ihn noch leiser werden. »Es kann sein, dass ich mich täusche, aber im Radio und auch in der Zeitung ist gerade die Rede von einer Dreiergruppe – und ich meine, die Beschreibung könnte auf Sie passen.«
»Wer?« Ben beschrieb fragend mit dem Zeigefinger einen Kreis über sich, Nina sowie den alten Stinker, wobei er Birne bewusst überging.
»Nein, mit ihm.«
»Mit ihm?«
»Ja.«
»Den? Den kenn ich nicht. Oder?«
Birne reagierte: »Mich? Nein, Sie kenn ich nicht. Wer sollen wir sein? Was denken Sie?«
»Na die vom Radio. Ach vergessen Sie’s. Man fühlt sich selbst schon ganz verfolgt, diese ganze Scheiße dauernd in den Medien.«
»Na ja«, stimmte Birne bei, »man kann ja ausschalten. Ich selbst habe meinen Fernseher rausgeschmissen.«
»Nicht wahr? Sie haben Ihren Fernseher rausgeschmissen?«
»Doch. Lieber mal abends ein gutes Buch lesen oder einen Bekannten anrufen, bei dem man sich lange nicht gemeldet hat. Ich vermisse nichts.«
Birne und Ben lenkten hervorragend ab, sie wurden nicht laut, sie stritten nichts übertrieben ab. Dennoch war ihnen nun die Aufmerksamkeit der Fahrgäste sicher. Jeder überlegte: Sind sie’s oder sind sie’s nicht? Da wurde ohne Worte um eine Mehrheit gerungen. Wenn mehr als die Hälfte sich hätte entschließen können, dass sie’s waren, dann wäre ein Geschrei losgegangen, dann hätte der Bus gehalten und die Polizei wäre gekommen.
Und war da nicht ein junger Herr, einer in einem Streifenhemd, ein korrekter, auf dem Weg zum Praktikum in einer Internetfirma, der gerade sein Handy zog. Was wählte er da? Warum schaute er so demonstrativ weg und doch immer wieder her?
»Ich muss jetzt raus«, sagte Ben und wollte von Nina vorbeigelassen werden.
»Wir auch«, sagte Birne und drückte auf den Haltewunschknopf .
Niemand hinderte sie daran. Alle waren ein bisschen froh, dass sie draußen waren. Das Handeln mussten nun andere übernehmen.
Sie standen ein gutes Stück von ihrem Ziel entfernt am Rand der Innenstadt. Sie würden zu Fuß gehen. Wenn zwei oder drei eine Weltreise unternehmen, dann ist es üblich, dass sie das letzte Stück – 50, 100 Kilometer – zu Fuß gehen.
Das passte jetzt, sie machten sich auf, ohne zu reden, aber mit ein wenig bitterem Abschied auf der Zunge. Sie hätten gern noch
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