Alphavampir
Augen flog Kristobal auf sie zu, stützte sich auf den Armlehnen ab und beugte sich zu ihr herunter.
Erschreckt drückte Nanouk ihre Kehrseite gegen die Rückenlehne. Ihre Hände schlossen sich so fest um die Armstützen, dass ihre Handgelenke weiß hervortraten. Sollte Kristobal noch irgendwelche Sympathien für sie gehegt haben, so hatte sie diese soeben verspielt.
Dann sagte er etwas Unfassbares: «Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass einer deiner Rudelgefährten Adamo getötet und das Fell an ihm platziert hat, denn die Werwölfe kommen jederzeit an dein Fell. Ihr lauft doch regelmäßig zusammen, nicht wahr?»
«Nein, nein, das glaube ich nicht», wisperte sie atemlos.
«Und wieso ist dann dein Alphawolf nicht hier, um dir beizustehen?» Er sah ihr tief in die Augen und sein Blick war so getränkt von Herausforderung, dass ihre Wölfin in der einen Sekunde knurrte und in der nächsten winselte. Auf der einen Seite wollte sie ihn angreifen, weil er ihr Rudel beleidigt hatte, auf der anderen erkannte sie nicht nur, dass er ihr in jeglicher Weise überlegen war, sondern auch, dass etwas an seiner Theorie dran sein könnte.
Während vereinzelt Vampire abfällig auflachten, tuschelten die Werwölfe oder schwiegen entsetzt. Auch sie waren verunsichert, weil Claw der Verhandlung fernblieb.
«Ich will ihre Schulter sehen!» Radim wollte zurück auf die Bühne treten, doch Kristobal streckte seinen Arm aus und hielt ihn davon ab.
Der Alphavampir stellte sich hinter den Stuhl und zog ihr langärmliges T-Shirt beiseite, um die Schulter freizulegen, die sie sich auf dem Hoteldach verletzt hatte.
«Ha!», schrie Radim und klatschte einmal in die Hände. «Hab ich’s doch gewusst. Nichts.»
«Natürlich ist nichts mehr zu sehen. Die oberflächliche Wunde ist längst verheilt. Herrje, es war nur eine Abschürfung.» Arctos’ Erklärung entsprach zwar der Wahrheit, aber sie klang wie eine Ausrede. Hoffnungsvoll wandte er sich an Kristobal. «Aber du hast die Wunde doch gesehen.»
Leise seufzend ließ der Alpha den Stoff los. «Nein, habe ich nicht.»
Ein Raunen ging durch die Reihen.
Nanouks Verzweiflung wuchs. Log er? Oder hatte er im Treppenhaus nur Augen für ihre nackten Rundungen gehabt?
Ihr Blick glitt über die Zuschauerreihen. An einem Gesicht blieb sie hängen. Es war das einzige, das sie anlächelte. Ihr Geist krallte sich an ihm fest, wie an einen rettenden Anker. Ihr war, als würde sie fallen. Alles um die herum verblasste. Eine seltsame innere Gelassenheit breitete sich in ihr aus. Sie fühlte nichts mehr. Ihre Gedanken waren leer. Da war nur wohltuende, entspannende Schwärze. Endlich verschwanden diese bohrende Angst und die Verzweiflung, weil Claw sie in ihrem Elend allein gelassen und Kristobal sich von ihr abgewandt hatten.
Schlagartig erkannte Nanouk, dass ihre Gedanken gar nicht leer waren, sondern Nebel hindurchwaberte und alles verhüllte. Er war der Grund für die Dunkelheit ihres Geistes. Der Dunst war schwarz, dicht und zäh wie Emissionen aus hunderten Industrieschloten, und er floss nur langsam ab. Träge zog er sich zu den Seiten zurück wie Theatervorhänge aus Ruß, die den Blick auf die Bühne freigaben – oder in Nanouks Fall die Erinnerung, die dahinter lauerte.
Schon als Nanouk die Krallen sah, die zum Vorschein kamen, wünschte sie sich, der Nebel würde wieder dichter werden. Denn die Klauen gehörten zu ihr. Blut tropfte herunter. Nanouk folgte den Tropfen mit ihrem Blick. Das Blut fiel zu Boden. Auf den schmutzig nassen Asphalt und den Körper, der vor ihren Füßen lag. Adamos Körper. Adamo hielte die Hände schützend vor seinen Kopf. Seine Augen hatte er weit aufgerissen vor Entsetzen. Er röchelte, weil seine Kehle aufgerissen war. Schließlich ließ er kraftlos seine Arme sinken. Das Leben floss literweise aus ihm heraus.
«Ich war’s.» Was hatte sie nur getan? Nanouk begann zu zittern. «Jetzt erinnere ich mich wieder.»
«Wovon sprichst du?», fragte Kristobal barsch.
«Adamo. .. Ich hatte es vergessen.» Nanouk schlotterte nicht vor Kälte, denn im Theater war es heiß wie immer, sondern vor Erschütterung. Fassungslos schüttelte sie den Kopf. «Ich bin schuldig.»
Canis schrie auf und wollte zu ihr laufen, doch Nubilus hielt ihn davon ab. Stattdessen trat Arctos auf das Podest. Er beugte sich zu ihr herunter, fasste ihre Schultern und schüttelte sie sanft. «Was faselst du da, Mädchen? Reiß dich zusammen. Du kannst Adamo nicht
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