Alptraumland
verführt zu haben, in das Haus einzusteigen und sich nach Brauchbarem umzusehen. Und Brauchbares, das sich in klingende Münze umwandeln ließ, fand ich zuhauf: silberne Bestecke, goldene Leuchter, teure Ölgemälde, und in der Schublade eines alten Sekretärs einen Lederbeutel, der achtzig englische Pfund in Münzen enthielt.
Die Zimmer waren ausnahmslos verstaubt und rochen nach Muff. Nach Onkel Stephens Tod hatte niemand daran gedacht, die Möbel abzudecken, so daß es nicht ratsam war, Platz zu nehmen, wenn man nicht in einer Staubwolke ersticken wollte.
Eine dicke Staubschicht lag auch auf den Teppichen. Sobald ich einen Raum durchquert hatte, öffnete ich die Fenster, da sofort dicke Staubflocken aufwirbelten, wohin ich den Fuß auch setzte. Die erste Zigarette, die ich mir anzündete, schmeckte abscheulich süß, deswegen machte ich sie gleich wieder aus.
Ich zählte insgesamt nicht weniger als zehn luxuriös eingerichtete Schlafzimmer (ihr Mobiliar taugte freilich kaum noch etwas), eine Bibliothek mit schätzungsweise zwanzigtausend Bänden (ihr wollte ich mich ganz besonders widmen), einen Speisesaal, eine für moderne Begriffe recht altmodisch eingerichtete Küche, zwei gemütlich eingerichtete Arbeitszimmer (auch sie mit kleinen Bibliotheken versehen), vier Wohnräume mit Kamin und eine Reihe kleinerer Kabinette, Abstellräume und leerstehende Zimmer.
Am Ende meines Inspektionsgangs, der hauptsächlich dem Zweck diente, jedem Zimmer, das ich betrat, auf einer Liste seine spätere Bestimmung zuzuweisen, stand ich vor einer schmalen Treppe, die von der Bibliothek in den Keller führte. In der optimistischen Hoffnung, ein gut sortiertes Weinlager zu entdecken, stieg ich in die Dunkelheit hinab. Ich hatte nur eine Taschenlampe; elektrischen Strom gab es auf Ashton Manor noch nicht.
Die Treppe war kurz, was mich einigermaßen verwunderte. Sie führte etwa zwei Meter in die Tiefe, dann stand ich schon in einem kleinen Raum, von dem vier Gänge abzweigten. Ich wählte den erstbesten Gang, beleuchtete mir den Weg und geriet in einen Korridor, von dem zahlreiche Räume mit schweren Eisentüren abwichen. Im oberen Drittel der Türen waren winzige vergitterte Fenster eingelassen. Das sah nach mir sehr nach einem Verlies aus. An einem Wandhaken hing ein rostiger Schlüsselbund, den ich an mich nahm.
Ich sperrte die erste Eisentür auf und trat in einen Vorratsraum voller Regale. Mein Blick fiel auf Hunderte von Gläsern mit eingemachtem Obst. Ich bezweifelte, daß es noch genießbar war und faßte den Vorsatz, es bei der erstbesten Gelegenheit auf den Komposthaufen zu werfen. Im zweiten Raum stieß ich auf Gartenwerkzeug und einen frühen Rasenmäher. In der dritten Räumlichkeit endlich befand sich das Weinlager, nach dem ich gesucht hatte. Es enthielt mehrere vorzügliche Tropfen, wenn auch insgesamt nur einige Dutzend Flaschen. Im vierten Raum stolperte ich über eine am Boden liegende Pechfackel. Sonst war diese Kammer leer. Im fünften Zimmer grinste mir ein Skelett entgegen. Dieser Fund bereitete mir einen solchen Schock, daß ich reflexartig einen Schritt zurückschrak und einen Schrei ausstieß. Das Grausen fuhr mir dermaßen in die Knochen, daß mir ein eisigen Schauer über den Rücken lief. Mein Herz pochte wie rasend, und ich stand mehrere Sekunden lang wie festgewachsen da.
Ich zündete mit bebenden Fingern die Fackel an, die ich zuvor an mich genommen hatte, und musterte das Gerippe aus der Nähe. Die einzelnen Knochen waren verstreut und lagen vom zum Teil bis zu einem Meter vom Rumpf entfernt, so daß mir der Gedanke durch den Kopf schoß, daß Ratten die Leiche zerlegt haben könnten. Die Handgelenke des Skeletts steckten in eisernen, mit rostigen Ketten an der Wand befestigt Ringen.
Ich kniete mich neben die Knochen. Mein Herz schlug schnell. In meinem Kopf toste das reine Chaos. Im Magen breitete sich Übelkeit aus. Ich hatte die schauderhaftesten Gedanken. Wenn das, was Angus Robertson mir erzählt hatte, den Tatsachen entsprach … Sollte dieser Tote wirklich ein Opfer meiner Ahnen geworden sein?
Doch wenn ja, warum hatte man das Skelett einfach hier liegen lassen? War der Humor meines verstorbenen Onkels so morbide gewesen, daß er es als ›Andenken‹ an die Zeiten der Herrschaft der Ashtons hier unten aufbewahrt hatte? Mir wurde schwindlig. Die Vorstellung erschien mir unglaublich. Ich kannte keinen normalen Menschen, der in einem Haus, in dessen Keller eine Leiche lag, nachts auch
Weitere Kostenlose Bücher