Alptraumland
ihm von dem mysteriösen Überfall, ohne freilich das Skelett im Keller zu erwähnen, denn ich wollte ihn unter keinen Umständen in Panik versetzen.
»Es war bestimmt ein Wilderer«, meinte er, »den Ihr plötzliches Auftauchen überrascht hat. Vielleicht hat er Sie für einen Förster gehalten. Oder er ist wütend darüber, daß Ashton Manor jetzt nicht mehr herrenlos ist.«
Nach einigen Nachdenken gab ich ihm recht.
4. Kapitel
Aus dem Schriftwechsel H.P. Lovecrafts
mit Frank Belknap Long
14. August 1923
Salve, mein Junge!
In ziemlich gedämpfter Gemütsverfassung schreibe ich Dir heute während der Eisenbahnfahrt nach Glasgow. Obwohl es fast 3.00 Uhr morgens ist, konnte ich noch keinen Schlaf finden – aber das ist nicht schlimm, Du weißt, ich arbeite gerne nachts, und starker Kaffee hält mich zu jeder Tages- und Nachtzeit in Form. Ich muß Dir mitteilen, daß ich durch den gestrigen Besuch bei Sir Sherlock Holmes in einen Zustand düsterer Melancholie geraten bin, der wohl noch eine Zeitlang nachwirken dürfte, bis mich auf Ashton Manor neue Angelegenheiten konfrontieren und ablenken werden.
Ich brauche gewiß nicht erst zu betonen, daß mich gestern das Dienstfahrzeug des Außenministeriums, ein schwarzer Bentley, mit der korrektesten Pünktlichkeit vom Royal Albion Hotel abholte. Im stillen hatte ich gehofft, Sir Mycroft würde mich begleiten, doch offenbar hinderten ihn dringende politische Aufgaben daran, mehr Zeit für mich zu erübrigen. Der Chauffeur, ein kerniger, allerdings schon älterer Schnauzbart, der merklich hinkte – wahrscheinlich ein ausgedienter Offizier –, eröffnete mir, es sei sein Auftrag, mich zum Aufenthaltsort einer bestimmten Persönlichkeit zu befördern, ihm jedoch streng verboten, mir dessen Lage verraten, und zudem müßten wir mit geschlossenen Vorhängen fahren.
Dagegen hatte ich durchaus keine Einwände, im Gegenteil, schützten die Vorhänge der Fahrzeugfenster mich doch vor dem Anblick des Pöbels, der Häßlichkeit gemeinerer Londoner Stadtviertel und meine empfindliche helle Haut vor dem lästigen Augustsonnenschein. Ich war sehr zufrieden mit dem Chauffeur, der das Automobil ruhig und gleichmäßig beherrschte und kein überflüssiges Wort verlor. So konnte ich im Verlauf der Fahrt, die ca. 2 Stdn. gedauert haben muß, sogar ein bißchen dösen. Die Absicht, mir das Ziel des Ausflugs zu verheimlichen, konnte allerdings, wir Dir, lieber Frank, sofort klar sein wird, wenn Du an mein hochgradig ausgeprägtes, untrügliches Orientierungsvermögen denkst, nicht völlig gelingen. Ich wäre jederzeit zu beschwören bereit, daß wir London in nordwestlicher Richtung verließen und in die Umgebung des Örtchens High Wycombe fuhren, das Du auf der Landkarte an der Eisenbahnstrecke London-Oxford finden kannst. (Es soll dort Überreste aus römischer Zeit geben. Auf jeden Fall hat nahebei auf Hughenden Manor der legendäre Staatsmann Benjamin Disraeli gewohnt.)
Als plötzlich das Halten des Kraftfahrzeugs meine Aufmerksamkeit weckte, sah ich voraus ein großes Gittertor, das einige Männer in Arbeitskluft gerade öffneten. »Wir sind da, Sir«, sagte mein Chauffeur. Wir rollten in gemächlichem Tempo eine Allee entlang, die auf ein weitläufiges, weißes Gebäude mit zahlreichen hohen, typisch englischen Schornsteinen zuführte. Ringsum erstreckten sich Grünanlagen, die offenbar Bestandteile eines äußerst großflächig angelegten Parks bildeten.
»Ist es ein Hospital?« fragte ich den Chauffeur. Der angegraute Haudegen aD. schüttelte den Kopf. »Ein Sanatorium, Sir.« Anscheinend hatte man weite Bereiche des Sanatoriumsgebäudes aus weißgrau gemasertem Marmor errichtet, ein Sachverhalt, aus dem ich die Erkenntnis ableitete, daß ich nicht etwa bei einer Heilanstalt für arme Leute vorfuhr. Dafür sprachen auch die großzügig bemessenen Blumenbeete beiderseits der Auffahrt und auf dem Rondell, die einladende Freitreppe und das nahezu zyklopische Eingangsportal. Meine Schlußfolgerung lautete, daß hier ausschließlich wirkliche Gentlemen ihre angekränkelte Gesundheit kurierten.
Beim Aufreißen des Wagenschlags sagte mir der Chauffeur, er hätte Order, auf mich zu warten und mich zum Royal Albion Hotel zurückzufahren. Ich erstieg in drückender Augusthitze die Freitreppe und flüchtete mich vor der Sonne schleunigst ins Foyer, wo mich ein Pförtner in Livree empfing. Mangels einer klügeren Idee gab ich meinen Namen und die Absicht an, Sir Sherlock
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