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Alptraumland

Alptraumland

Titel: Alptraumland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Ronald M. und Pukallus Hahn
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Holmes eine Visite abzustatten.
    Anscheinend hatte man den Pförtner informiert, denn er verständigte an seinem Fernsprechapparat eine Pflegerin, die dann, nach einem artigen Knicks, die weitere Führung übernahm und mich in ein Zimmer an der rückwärtigen Seite des Gebäudes geleitete. Übrigens herrschte in dem ganzen Bauwerk eine wahrhaft himmlische Stille, die nur noch Friedhofsruhe überboten hätte. Ich bin, im Gegensatz zu Poe, nicht besessen vom Tod – für mich birgt der Tod keine Geheimnisse –, aber ich mußte unwillkürlich denken, daß es einen schöneren Ort als dieses Sanatorium für ein friedvolles Verscheiden schwerlich geben könnte.
    Wen ich zunächst kennenlernte, war indessen nicht Sir Sherlock Holmes, sondern Dr. Watson. Obschon das Alter naturgemäß auch ihn nicht verschont hat, habe ich ihn auf den ersten Blick erkannt. Die bläuliche Rötung seiner massig gewordenen Gesichtszüge sowie die allgemeine Korpulenz seiner Statur legten mir den Verdacht nahe, daß er zeitlebens nur begrenzte Neigung hatte, ärztliche Ratschläge hinsichtlich einer maßvollen Ernährungsweise, die er mit Sicherheit Patienten erteilte, selbst zu beachten. Obwohl seine Erscheinung sich durch eine gewisse, wenngleich biedere Stattlichkeit und Dignität auszeichnete, merkte man doch auf den ersten Blick, daß man zwar vor einem ehrbaren Mann, aber niemals vor einem echten Gentleman stand. Dr. Watson blieb mir gegenüber spürbar reserviert, und ich vermute wohl nicht zu unrecht, daß er meinen Besuch bei seinem alten Freund als überflüssige Behelligung empfand. Nachträglich muß ich jedoch klarstellen, daß meine kurze Anwesenheit – aus Gründen, die Du gleich lesen wirst – Sir Sherlock nicht in unvertretbarem Maße strapazierte.
    »Leider muß ich Ihnen offenbaren, Mr. Lovecraft«, sagte mir Dr. Watson, »daß keine Gewähr besteht, daß Holmes ansprechbar ist. Ihnen dürfte geläufig sein, daß Greisentum sich des öfteren mit stets dauerhafterem Rückblick ins Vergangene verbindet, und häufig beliebt es Holmes, verträumt über seine einstigen detektivischen Meisterleistungen nachzusinnen. Und verhalten Sie sich bitte leise, da er manchmal schreckhaft ist.«
    Sofort versprach ich äußerste Behutsamkeit des Auftretens, und Dr. Watson ging auf eine kleinere, mit gepolsterten Korbmöbeln ausgestattete Terrasse voraus, auf der eine einzelne Person Platz genommen hatte. Ich näherte mich dem großen Detektiv mit wahrer Ehrfurcht. Um so ärger fiel meine Bestürzung aus, als ich sah, daß er nicht in einem Korbsessel, sondern in einem Rollstuhl saß, wie er gemeinhin nur für die Gebrechlichsten und Siechsten bestimmt ist.
    Freilich hatte ich nicht erwartet, diese Koryphäe der Kriminalistik noch auf der Höhe der Wirkenskraft vorzufinden, doch ebensowenig hatte ich damit gerechnet, einen Mann im Zustand vollkommenster Hinfälligkeit anzutreffen. Das so markante Gesicht mit der hohen Stirn, dem strengen Scheitel und der mit dem Schnabel eines Bussards vergleichbaren Nase konnte man nur noch in groben Umrissen erkennen. Sir Sherlocks stark gelichtetes Haar war schlohweiß geworden. Mehr noch als die pergamenthafte Runzeligkeit und Blässe der Wangen erschreckte mich der Speichel, der ihm vom leicht offenen Mund bis aufs Kinn sickerte, denn er beraubte diesen verdienten, alten Menschen der Würde. Unter den halb herabgesunkenen Lidern sah ich in den Augen nichts als völlige Stumpfheit, so daß ich hier, verböte es mir nicht der Respekt vor dem Alter im allgemeinen, nicht zögern würde, von Verblödung zu schreiben. Seine sichtlich zitternden Hände ruhten kraftlos auf der Wolldecke, in die man ihn bis in Brusthöhe gewickelt hatte.
    Dr. Watson kam hurtig herbei, während ich noch ganz fassungslos vor Sir Sherlock stand, und wischte ihm mit einem Sacktuch den Speichel ab. »Holmes?« fragte er und beugte sich dicht zur Schläfe des Angesprochenen hinab. »Holmes?« Und ein drittes Mal: »Holmes?«
    Sir Sherlocks Blick nahm, indem schwacher Glanz seine Augäpfel belebte, einen leichten Ausdruck der Nachdenklichkeit an, als müßte er sich auf etwas besinnen, das er eigentlich mit gänzlicher Selbstverständlichkeit hätte wissen müssen. Er drehte ein wenig den Kopf.
    »Das ist Mr. Lovecraft aus Amerika«, sagte Dr. Watson, wies mit einem Wink auf mich. »Ihn hat der sehnliche Wunsch hergeführt, dem besten und erfolgreichsten Detektiv der Welt gegenübertreten zu dürfen.«
    Ich traute mich um noch einen

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