Alptraumland
aufzustehen, verlasse allerdings nach wenigen unerfreulich verlaufenen Exkursionen meine Kabine, wo ich glücklicherweise vom Kabinenservice vorzüglich versorgt werde, überhaupt nicht mehr. Die Ursache liegt in weiteren unschönen Umständen der Seefahrt, die in meiner begeisterten Vorfreude ganz unbeachtet geblieben sind. Einer dieser Umstände ist der fürwahr ekelhafte Fischgeruch, der über dem gesamten Meer die Luft verseucht und auch die Flure und Winkel dieses Ozeanriesen durchdringt, und eben die Riesenhaftigkeit selbigen Dampfers bedingt einen anderen abstoßenden Umstand, nämlich die Massenhaftigkeit Tausender von Passagieren.
Naturgemäß wird der vielköpfige plebejische Mob ordnungsgemäß in den billigen Zwischendecks in Schach gehalten und darf die Erste Klasse nicht betreten. Dennoch erinnert mich die Situation fatal an das Sündenbabel unserer amerikanischen Großstädte mit ihrem ununterbrochenen Tohuwabohu, ihrem Lärm und Gedränge. Außerhalb meiner Kabine ist es praktisch unmöglich, den Leuten aus dem Weg zu gehen, und man wird, vor allem von Ausländern, sofort angesprochen und in banale Geschwätzigkeit verwickelt. Die Beengtheit und Langeweile an Bord haben eine allgemein grassierende Aufdringlichkeit zur Folge, von dem zu meinem Bedauern nicht einmal der Kabinenservice völlig ausgenommen ist. Entgegen meiner nüchternen Einschätzung sind die Stewards der Meinung, ich äße zuwenig. Das ist durchaus nicht der Fall, ich verzehre täglich mehrere Portionen Apfelkuchen mit Eiscreme à la Waldorf und trinke reichlich Kaffee mit viel Zucker.
Du wirst meine Schilderung besser begreifen, wenn ich wiedergebe, was für üppige Schwelgereien die Speisekarte aufführt. So hätte ich heute ein siebengängiges Menü aus Potage Marie-Stuart, Petites barquettes Sévigné, Saumon de Loire à la Daumont, Filet de Charolais à la Moscovite, Faisans truffés oder Flanqués de cailles, Asperges d’Argenteuil nebst edlem Chambertin ohne Aufpreis und zum Dessert Rochers de nougat einnehmen können, wäre ich meiner ständigen Magenbeschwerden ledig gewesen und hätte daran Geschmack gefunden. Und wie Du weißt, möchte ich es vermeiden, meinen Geist durch übermäßiges Essen abzustumpfen.
Doch genug der Zeilen über die Widrigkeiten der Reise. Es ist – zu meinem eigenen Erstaunen – etwas geschehen, das Du mir vielleicht nicht glauben würdest, wäre Dir nicht unzweifelhaft allzeit gegenwärtig, daß ich ein Mensch mit der Eigenschaft der ernstesten Wahrheitsliebe bin und mir niemals den üblen Scherz erlaube, in meiner Korrespondenz irgendwelche Unwahrheiten auszustreuen. Darum darfst Du mir vollauf Glauben schenken, wenn ich Dir nun anvertraue, daß mir aus der Funkstube der Aquitania ein vom britischen Außenministerium gemorstes Telegramm zugegangen ist – unterzeichnet von keinem anderen als Sir Mycroft Holmes persönlich!
Gewiß weißt Du noch, daß ich vor geraumer Zeit die britische Gesandtschaft um aufschlußreichere Informationen zum Fall Barlow angeschrieben, man mir jedoch nie Auskünfte übermittelt hatte. Jetzt hat man mir allem Anschein nach verspätet die Ehre einer Antwort gewährt. Sir Mycroft ersucht mich um einen Abstecher nach London, eine Eisenbahnfahrt ist schon arrangiert worden. Obwohl der Zweck der Begegnung in dem Telegramm nicht näher erläutert wird, erblicke ich in der Tatsache, daß der Fall Barlow sich im Hinterland Glasgows, also dem eigentlichen Ziel meiner Reise, abgespielt hat, einen bedeutungsvollen Zusammenhang mit Sir Mycrofts Einladung.
Bestimmt kannst Du Dir denken, daß mir vor stolz ein wenig die Brust schwoll, als ich das Telegramm in Händen hielt. Aber ich will Dir anvertrauen, daß meine insgeheimen Hoffnungen sich sogar schon auf eine weitere Angelegenheit richten. Sir Mycrofts weltberühmter, inzwischen hochbetagter Bruder Sherlock Holmes, der erfolgreiche Detektiv, haust heute, soviel man aus Gerüchten ableiten kann, in klausnerischer Abgeschiedenheit, um nach seinen vielfältigen Verdiensten um die Gerechtigkeit und die britische Nation den Lebensabend in Frieden auszukosten. Trotzdem mag ich es nicht ganz ausschließen, daß Sir Mycroft, zumal er voraussichtlich irgendeine Art von Erwartung in unsere Unterredung setzt, sich dazu bereitfindet, mir eine Zusammenkunft mit seinem Bruder zu vermitteln. Das wäre für mich ein in der Tat großes Ereignis. Das alles bewegt sich allerdings noch auf der Ebene der Spekulation, so daß ich nicht über
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