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Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Titel: Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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sah sie einen Menschenkopf liegen.
    Sie gewann ihre Fassung schnell wieder zurück, denn sie erkannte, dass der Kopf aus Ton bestand. Es war eine Skulptur. Jacqueline konnte den Blick nicht von den geschlossenen Augen abwenden. Das aus unterschiedlichen Materialien bestehende Werk zeigte den Kopf eines schlafenden Mannes. Die fein ausgearbeiteten Züge waren ergreifend, das Gesicht strahlte eine unglaubliche Ruhe aus, während es zugleich von tiefer Melancholie erfasst zu sein schien.
    »Ich habe die Skulptur ein paar Tage nach Aleksanders Beerdigung geschaffen. Aus der Erinnerung.«
    Nane betrachtete lächelnd ihre Cousine. Während sie die Skulptur abstaubte, begann sie gedankenverloren zu erzählen, als führe sie ein Selbstgespräch.
    »Sie hat sich gut gehalten. Das ist erstaunlich. Die Skulptur ist vierzig Jahre alt, und der Ton hat keine Risse bekommen. Ich habe Nägel und Zeitungspapier verwendet, und alles ist noch da ... Rodin hat einst den Kopf einer jungen Frau auf diese Art geschaffen. Es war ein Entwurf, der in keinem Museum steht. Ich habe ihn in dem Atelier seines Hauses in Meudon entdeckt, wo man ihn offenbar vergessen hatte. Ein Freund hütete das Haus und erlaubte mir, das Atelier zu betreten ... Die fertige Skulptur bestand aus Marmor. Mir gefiel aber immer dieser Entwurf besser, der den Augen der Menschen entzogen war und dem Alterungsprozess unterworfen ... mit so einfachen Materialien ein so edles Gesicht zu gestalten ...«
    Nane, deren Gesicht jetzt deutlich in zwei unterschiedliche Hälften zerfiel, strich zärtlich über die Skulptur, klebte eine kleine Stelle fest und drückte gegen die Schläfe. Aleksander. Jacqueline traten Tränen in die Augen, und sie brachte keinen Ton heraus. Sie kannte alle Fotos von Nane, alle Epochen ihres Lebens in den Schuhkartons, und allmählich dämmerte es ihr. Eine Hälfte von Nanes Gesicht war an dem Tag erstarrt, als Aleksander starb. Jetzt sah Jacqueline die Fotos vor Augen, die vorher und nachher entstanden waren, und sie erkannte, dass das Lächeln auf den Bildern sich fast unmerklich verändert hatte.
    Ihre exzentrische Cousine, nunmehr eine alte Frau, versteckte ihren Kummer in einem Schrank, den eineSchäferin aus Alabaster bewachte. Sie wollte ihre Traurigkeit unbedingt verbergen und versuchte, die entsetzliche Einsamkeit durch köstliche Menüs, viele Gäste, feinen Spott und Weisheiten zu verdrängen, die andere mitunter verletzten. Doch ein Teil ihres Lächelns war längst zu einer Skulptur erstarrt, um sich mit Aleksander in dem verschlossenen Schrank zu vereinen. In Jacquelines liebevolle Besorgnis mischte sich Scham. Sie hätte Nane gerne in die Arme genommen, wie sie es als junge Mädchen getan hatten, um ihr zu sagen, dass schon morgen alles wieder gut sein würde. Doch sie waren zu alt, und es bestand keine Hoffnung mehr, dass ein neuer Tag den Schmerz heilte.
    Nane nahm die Hände von dem schlafenden Kopf und tastete sich durch die anderen Fächer. Dort standen weitere Kartons ohne Etiketten. Nane strich darüber, bis sie einen kleinen Pappkoffer fand. Das kleine Schloss war verrostet, aber nicht zugesperrt.
    »Vielleicht findest du darin dein Glück.« Mit diesen Worten öffnete Nane den Koffer.
    Jacqueline nahm ihn entgegen und stellte ihn auf den Tisch neben sich. Sie hörten ein Geräusch im Zwischengeschoss. Darauf folgte ein Flügelschlagen und in der Ferne der Ruf einer Eule.
    Jacqueline lag eine Erwiderung auf der Zunge, doch ihr fehlte der Mut, sie auszusprechen.
    »Wenn du willst, kann ich bei dir wohnen bleiben«, stieß sie plötzlich voller Eifer hervor.
    »Das ist nett von dir, meine Liebe. Aber weißt du, in unserem Alter ist es besser, wenn nicht andere für uns die Entscheidungen treffen.«
    »Niemand trifft eine Entscheidung für mich.«
    »Doch, ich. Und Aleksander da. Und all das hier. Darum willst du bleiben. Mach dir keine Sorgen. Ich habe Arminda.«
    »Arminda wird nicht immer bei dir wohnen bleiben.«
    »Du auch nicht. Und ich auch nicht, Jacqueline.«
    »Weißt du, Mutter hat sich niemals damit abfinden können, dass du mit Aleksander weggegangen bist, und doch war er der richtige Mann für dich. Vielleicht ist es bei Bruno und Arminda genauso.«
    »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Bei Bruno und Arminda ist es mit Sicherheit nicht genauso. Aber sie hat noch genug Zeit.«
    »Nein, Nane«, erwiderte Jacqueline so energisch, dass ihre Cousine überrascht war. »Sie hat keine Zeit. Wenn wir beide eines in unserem

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