Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
stand, und fuhr im Mondschein zurück nach Port-Joinville.
Keine der Frauen konnte heute schlafen. Am wenigsten Jacqueline. Als sie den kleinen Koffer aus Pappe öffnete, fand sie drei Fotos des in Schwarz gekleideten Mannes.
Ein Bild hatte sie zwischen den Hochzeitsfotos eines Cousins gefunden. Jetzt erinnerte sie sich wieder. Auf dieser Hochzeit lernten Nane und Aleksander sich damals kennen. Das zukünftige Liebespaar spielte auf den Fotos Verstecken, und Nane lächelte mehr als sonst. Doch Jacqueline blickte immer wieder auf den schwarz gekleideten Mann. Diesmal sah sie seine Gesichtszüge ebenso deutlich vor Augen wie Nane, als sie Aleksanders Kopf modelliert hatte. Jung, hübsch und stolz stand er nach seiner ersten Trauungszeremonie vor der Kamera. Er wirkte so selbstbewusst in seinem Priestergewand. Es war Paul.
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Der Kleine Fuchs war tot. Ich wusste, dass seine Zeit vorüber war. Mir blieb von ihm nichts als ein zerbrochener, verblasster Flügel auf dem Betonboden des Ateliers. Ich erinnerte mich noch lebhaft an seine Farbenpracht. Der Kleine Fuchs existierte nicht mehr. Das war der Lauf der Dinge, und es war gut so. Ich hatte den größten Teil meines Erwachsenenlebens gelebt, ohne ihn zu kennen. Durch das Schlüpfen der Raupen wie durch seinen zwangsläufigen Tod wurde das Gleichgewicht der Welt wie seit Ewigkeiten vollkommen und auf natürliche Weise wiederhergestellt. Doch als ich die verstreuten Reste seines bunten Flügels fand, die sich mit dem Staub vermischten, kam es mir vor, als hätte die Welt ihr Gleichgewicht verloren.
Ich fühlte mich einsam in diesem Garten, in dem es von Insekten wimmelte. Außer mir schien es niemand zu bemerken, dass es auf der Welt einen Schmetterling weniger gab. Die Winde gestanden mir ein längeres Leben als meinen Brüdern zu. Und ich wusste, dass die mirunbekannte Melancholie das Los des hohen Alters war. Jacqueline, meine Heldin, drückte die alten Bilder an ihre Seidenbluse, und ich flog davon. Schließlich erreichte ich die roten Wege und die Bäume, die sich im Wind bogen. Ich setzte mich auf den kaputten Fensterladen einer verlassenen Fischerhütte. Auf der trockenen Ebene, die sich bis zum Meer erstreckte, konnten die Winde sich richtig austoben. Schlechtes Wetter bedeutete für einen Schmetterling große Gefahr. Es war mutig von mir, mich mit meinen müden Flügeln draußen herumzutreiben. Der kräftige Skiron setzte ein, der feierliche Wind, der sich keine Gelegenheit entgehen ließ, seine Kräfte voll zu entfalten. Als er durch die leere Hütte pfiff, bebten die Fensterläden. Ein Windstoß presste mich gegen das Holz, von dem die Farbe abblätterte, und einen Augenblick strampelte ich mit den Beinen durch die Luft. Nahte auch mein Ende? Doch als ich wieder Halt fand, war Skiron verschwunden. Apeliotes riet mir zur Flucht.
Ich folgte ihm bis zu einer kleinen Bucht, in der es nach Algen roch. In meinem Versteck zwischen den Felsen gab es keinen Nektar, den ich sammeln konnte, und daher wollte ich schnell wieder von hier weg. Doch Apeliotes zog meine Flügel immer wieder zu der Bucht, um sich Gehör zu verschaffen. Er hatte Paul gesehen. Auf der anderen Seite des Meeres, auf dem Festland. Dort, wo sich auch Marcel aufhielt. Es war der Tag vor dem Drachenfest. Paul kam pünktlich zu dem Treffen, das sie vor einer Woche vereinbart hatten. Der Loire-Schwimmer verspätete sich offenbar. Daher checkte Paul in einemkleinen, gemütlichen Hotel ein. Er bekam ein hübsches Zimmer, doch im Restaurant des Hauses wurde an dem Abend eine Hochzeit gefeiert. Paul floh vor dem Lärm und beschloss, mit dem Auto ans Meer zu fahren. Als er dort ankam, brach allmählich die Dämmerung herein. Noch war es relativ hell, und ebenso wie Marcel am Tag zuvor betrachtete Paul den Horizont. Rechter Hand Noirmoutier. Linker Hand die Ile d’Yeu, die ganz nahe zu sein schien. Die Laternen in Port-Joinville mussten schon brennen, denn man sah kleine, leuchtende Punkte. Dort am Strand wartete Paul. Er sah noch jugendlich wirkende Rentnerpärchen, Leute mit ihren Hunden, einen Fahrradfahrer und sogar ein paar beschwipste Teenager. Doch als es am Strand und auf den Dünen dunkel wurde, war er allein. Er betrachtete die Sterne, die er so gut kannte, und genoss die klare Nacht. Und im Hintergrund noch immer die Lichterkette, dort wo die Ile d’Yeu aus dem Wasser ragte.
Paul kehrte zu seinem Wagen zurück, öffnete den Kofferraum und nahm ein Teleskop heraus. Die Kartons aus dem
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