Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
Leben. Die ausländischen Touristen fischten auch seinen durchnässten Rucksack heraus. Das Kanu konnten sie allerdings nicht mehr retten, denn es war in der Strömung zerschellt. Nach zwei Ruhetagen in einem Hotel in Tours hatte Marcel sich wieder erholt und kaufte sich ein neues Kanu. Bei den ersten Paddelschlägen wirkte er noch ein wenig verzagt, doch dann glitt er wieder über die Loire und brachte in Gesellschaft von Zephyr und Boreas die nächsten Tage und Kilometer hinter sich.
Marcel steckte voller Energie, nachdem er schon das Schlimmste auf der Tour hinter sich hatte. Nicht nur körperliche Schmerzen, sondern auch Verzweiflung hatten ihn gequält, und beinahe wäre er sogar ertrunken. Jetzt fürchtete er sich vor nichts mehr, ohne deshalb besonders mutig zu sein. Marcel hatte einfach vergessen, warum man Angst hatte, Angst vor dem Alter, Angst, sein Zuhause zuverlassen, Angst vor dem Morgen, Angst vor dem Gestern, Angst vor Veränderungen und Angst, dass es keine Veränderungen mehr geben würde. Er erinnerte sich an viele Dinge nicht mehr, die außerhalb der Gegenwart lagen. Diese Erinnerungen waren im Wasser der Loire versunken.
Marcel bog von der Loire in die Vie ab, ließ das Kanu in Saint-Gilles-Croix-de-Vie zurück und ging die dreißig Kilometer bis Notre Dame de Monts zu Fuß. Natürlich war die Ankunft dort für ihn nur die vorletzte Etappe. Als er am Samstag, dem 1. August, wie ein König aus alten Zeiten an Waffel- und Frittenbuden entlang die Avenue de la Mer hinunterschritt, die zum Meer führte, sah er nur das, was noch fehlte: die Ile d’Yeu. Erst wenn er dort ankam, war er wirklich am Ziel. Doch wenn Marcel glaubte, er würde den Strand von Notre Dame de Monts erreichen, ohne dass ihm ein festlicher Empfang bereitet wurde, so irrte er sich. Zephyr sorgte nämlich dafür, dass er genau an diesem Tag hier ankam, denn er hatte eine Überraschung für ihn. Am Himmel schwebten Hunderte von Drachen.
Keine einzige Wolke dort, wo die Drachen flogen, lediglich über dem Meer war es kulissenartig bewölkt. Drachen in Form der rot-goldenen, mittelalterlichen Banner der französischen Könige, laute Stimmen, die so undeutlich waren wie die eines Marktschreiers. Aus Boxen drang Musik – eine Mischung aus House, Salsa und peruanischen Klängen. All diese Menschen am Ende der Leinen. Bunte Dreiecke, Ballette und Choreografien in der Luft, Meisterwerke der Technik und der Aerodynamik. Fahnen. Es gab kleine Drachen, die sich zwischen den Schnüren, die den Himmel zerschnitten, ihren Weg bahnten. Esgab Riesen, drei runde schwarze, chinesische Gesichter, die den Himmel beherrschten, Angeber mit Drachenschwänzen von zehn Metern Länge. Ein gewaltiger schwarz-roter Salamander musste von vier Männern gehalten werden. Die Füße des fünf Meter langen Lurchs hatten sich in den Leinen verfangen, und er wollte nicht so aufsteigen wie der Erzengel Michael und sein Drache. Allmählich überließ er sich mit dem breiten schwarz-roten Schwanz dem Wind und schwebte über dem Strand. Hunderte kleiner und großer Drachen eroberten den blauen Himmel: eine Krake, ein Teddybär mit Krawatte, ein chinesischer Gott, Hexen auf Besenstielen, eine bunte Röhre, aus Papier gefaltete Origami-Vögel, eine aufgemalte Heuschrecke, ein Pterodaktylus, Kreise, Vierecke und Dreiecke mit zwei Füßen, die über den Strand liefen. Und ebenso viele auf der Erde, die auf ihren Flug, den Wind und kräftige Arme warteten. Der Verkauf von allerlei hübschen, unnützen Kleinigkeiten, die Fahnen der Sponsoren, die Regionalzeitung, der Lokalsender France Bleu. Ein kleiner blonder Engel, der mit seinem Zipfelchen ein wenig lächerlich aussah. Haifische, ein Kreuzbube, alle bevölkerten das Blau, und alle stellten übereinstimmend fest, dass der Wind nicht zu stark wehte. Noch nie war Zephyr so glücklich gewesen.
Aller Blicke waren auf den Himmel gerichtet. Nur einer nicht. Marcel, der neben seinem Rucksack saß, schaute aufs Meer. Die Ile d’Yeu schien ganz nahe zu sein. Bei schönem Wetter konnte man sogar die weißen Häuser von Port-Joinville sehen. Diese Insel im Atlantik lag neunzehn Kilometer von der Küste entfernt, und das bedeutete neunzehn Kilometer tiefes Wasser, gefährliche Strömungen und neunzehn Kilometer Gefahr zu ertrinken. Die Ile d’Yeu, wo sich zeigen würde, ob sein ehrgeiziger Plan erfolgreich endete, war die am weitesten von der Küste entfernte Insel Frankreichs. Es gab eine Fähre, die stündlich zur Insel fuhr,
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