Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
Danach legte er lieber auf. Na bitte, es ging. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß er los mußte. Völlig unklar, wann gegen Mittag ein Zug von Königswusterhausen Richtung Cottbus fahren würde und wann dann einer von Lübbenau über Calau nach Großräschen.
Bevor er ging vergewisserte er sich noch des Zettels, den er von Hoffmann erhalten hatte, fand ihn in der Seitentasche des Jacketts, prägte sich noch einmal die Telefonnummer ein, rollte ihn zu einem Kügelchen zusammen und ließ es in eine Vase auf dem Garderobenschränkchen im Flur fallen. Wo, wenn nicht dort, war es sicher. Würde er diese Nummer jemals wählen? Höchst brisant, das war ihm klar, gefährlich, durchaus gefährlich … aber das allein war es nicht, da waren noch seine Eltern, Geschwister, seine Familie … Mit diesen Überlegungen ging er, nachdem er die Wohnungstür hinter sich ins Schloß gezogen hatte, die läuferbelegte Treppe hinab. Würde auch die Familie bedroht sein? Wenn, also wenn er mitmachen würde, wenn er Hoffmann zusagte, dann dürften die nichts erfahren, gar nichts wissen … Auch Irene würde ein Problem sein. Sie durfte nun nichts genaueres mehr erfahren. Andererseits würde sie ja auch bald nach Westdeutschland ausgeflogen werden. In Berlin durfte kaum ein Flüchtling bleiben, außer er war Ostberliner.
Er sah auf die Uhr, als er gegen zehn durch den Vorgarten auf den Bürgersteig trat. Auf dem Weg zur S-Bahn hatte er sehr bald kalte Füße in seinen schweinsledernen Halbschuhen und eiskalte Hände in den Joppentaschen, obgleich es gar nicht so kalt zu sein schien. Er sah schließlich Leute, die in offenen Mänteln liefen, ihn aber schauerte es. Er vergrub die Hände tiefer in den Taschen und zog den Kopf in den Kragen.
Am Bahnsteigkiosk kaufte er sich für umgerechnet sechs Ostmark eine Tafel Schokolade. Die meisten Geschäfte nahmen auch Ostmark zum momentanen Kurs von 1:5. Die Tafel war aufgegessen, noch bevor der S-Bahnzug einfuhr, der ihn über die Bahnhöfe Zoo, Friedrichstraße, Ostkreuz, Eichwalde – dort patrouillierte stets sowjetisches Militär auf den Bahnsteigen – nach Königswusterhausen bringen würde. Er mußte dann gleich nach dem Anschlußzug Richtung Calau fragen. Auch wenn die vergangene Nacht ihm etwas unwirklich vorkam, geschlafen hatte er jedenfalls traumlos. Also würde er sich entscheiden müssen und zuvor seinem Freund Hans-Peter vom Besuch bei Irene und was sich dabei zugetragen hatte, berichten. Und fragen würde er ihn, weshalb er nicht wie verabredet mitgefahren war. Aber dann wäre wahrscheinlich alles anders verlaufen. Sebastian fror noch immer, obwohl nun die Hände nicht mehr eiskalt waren. Die Schokolade tat ihre Wirkung. In Königswusterhausen erreichte er gleich einen Eilzug, der ohne Halt bis Lübbenau durchfuhr.
Der Personenzug über Calau nach Großräschen ließ dann aber auf sich warten. Zwei Stunden Aufenthalt. In der Lübbenauer Bahnhofsgaststätte hoffte er endlich auf irgendwas Eßbares und es gab in der Tat Bockwurst. Ein seltener Glücksfall. Die Gelegenheit beim Schopfe fassend, fragte er an der Theke dann auch gleich nach zwei Würsten mit Brot und Senf. Das waren fast schon wieder die letzten aus dem Heißwasserkessel. Glück mußte der Mensch haben, auch wenn er sechs Mark dafür hinlegen durfte. Beim Hineinbeißen bespritzte ein dünner Wasserstrahl ihm Hemd und Jackett. Weiß der Henker, was die hier für Pellen benutzten, zäh und dehnbar wie Gummi. Jedenfalls war dann der größte Hunger erst einmal gestillt. Danach bestellte er sich noch ein „Heißgetränk“, dessen Geschmack zwischen Frucht und Süßstoff nicht zu definieren war. Irgend etwas Chemisches, auf alle Fälle aber heiß, man konnte sich die Lippen am Glas verbrühen.
Er saß an einem Ecktisch mit Blick durchs Fenster auf die Straße vor dem Bahnhof und erinnerte sich daran, wie er als kleiner Junge mit seiner Großmutter in Lübbenau zu einem Spreewaldausflug per Bahn angekommen war. In der Erinnerung war ihm, als ob der Bahnhof damals, das war noch mehr zu Anfang des Krieges, weit außerhalb der Stadtgrenzen gelegen hatte. Der Bahnhof mit einem Ausbesserungswerk dahinter lag zwar am Rande des Ortes, doch Häuser gab es in der Nähe schon, Häuser, die auch damals bereits dort gestanden haben mußten.
Viel später war er mit zwei Schulfreunden im Spreewald Paddelboot gefahren. Amüsiert erinnerte er sich daran, daß keiner von ihnen eine Ahnung vom Paddeln gehabt hatte, als sie sich einen
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