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Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman

Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman

Titel: Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimund August
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Rausschleppen. Das sehen Sie zum Beispiel an den Bahnstrecken. Dort fehlt inzwischen immer öfter das zweite Gleis. Oder auf dem Lande: Jeder größere Bauer mit hundert Morgen oder mehr wurde enteignet. Und von den oft sehr schönen alten Landschlössern hat man viele einfach abgerissen. Denkmale des Junkertums hieß es. Mir tat das schon als Kind leid. Ich war mit meinem Vater oft unterwegs. Bauern und Neusiedler bauten oder besserten ihre Häuser aus. Auf ihren kleinen zugeteilten Landzipfeln waren die Neusiedler aber gar nicht lebensfähig, wie sich bald herausstellen sollte. Man wollte aber nur zu gern an den freien Bauern auf freier Scholle glauben, auch wenn diese mit Absicht winzig gehalten worden war. Wer jedoch anzweifelte, was der große Bruder sagte und tat, war ein Feind des Friedens, des Fortschritts, kurzum ein Volksfeind. Sie kennen sicherlich den Witz über Mitschurin nicht?“
    „Nee“, sagte Hoffmann, „wer ist denn das nun wieder?“
    „Ein russischer Biologe“, erläuterte Sebastian. „Der züchtete Apfelbäume, die am Polarkreis Äpfel tragen sollten. Jedenfalls haben wir das in der Schule mal in einem sowjetischen Film gesehen. Er vollbrachte dann noch einige andere erstaunliche Taten. Angesichts der bekannten Ernährungslage in der DDR reimte das Volk schließlich: Mitschurin hat festgestellt, daß Marmelade Fett enthält.“
    „Bemerkenswert“, sagte Hoffmann grinsend, „ist denn der Fettmangel noch immer so gravierend?“
    „Nein, nein, natürlich nicht“, erklärte Sebastian, „auch wenn es meist keine Butter gibt, nicht mal in der HO, aber Margarine gibt es und manchmal auch Schmalz beim privaten Fleischer, alles auf Marken natürlich. Und Marmelade gibt es auch, Vierfrucht, so mit Blättern, Stielen, Kernen und Schalen, auch auf Marken.“

    Die zweite Flasche Wein war fast geleert, eine dritte bereits bestellt. Sebastian wurde allmählich weitschweifig und geriet immer mehr ins Plaudern, zumal Hoffmann ihm ganz interessiert zuhörte und auch Irene, lebhafter geworden, seine Darlegungen des täglichen Lebens im Osten mit der einen oder anderen Bemerkung bestätigte oder ergänzte. Der Blick auf die Armbanduhr zeigte jedoch bald eine erschreckend vorgerückte Stunde an. „Ich muß los“, sagte Sebastian ein wenig ernüchtert, wenn ich den Nachtzug noch kriegen will. Und dann umsteigen in Lübbenau, dabei weiß ich nicht mal“, sagte er nachdenklich, „ob ich dort gleich Anschluß habe. Am Wochenende könnte das auch anders sein.“ Es grauste ihm schon vor der langen Nachtfahrt und von Lübbenau aus dann auch noch mit dem Bummelzug. Schon die S-Bahnfahrt nach Königswusterhausen dauerte über anderthalb Stunden auf den Holzbänken im rumpelnden, schwankenden und trüb erleuchteten S-Bahnabteil.
    „Sie können ja auch hier übernachten“, hörte er Hoffmann sagen. „Schließlich ist morgen Sonntag, da würden sie ja ausschlafen können, ob nun in Berlin oder in …“ Hoffmann hob die Hand und sah Sebastian fragend an.
    „Großräschen“, sagte der.
    „Also Großräschen“, wiederholte Hoffmann und schnippte dazu mit den Fingern. „Sagen Sie, Großräschen, ist das denn so groß wie es heißt?“
    „Was heißt groß?“ Sebastian mußte lachen. „Es gibt ja auch Klein-Räschen und dazu Bückgen, kommt aus dem Wendischen und hat was mit Buchen zu tun, die dort wohl wuchsen, als dieses alte Straßendorf gegründet wurde. Das Ganze heißt auch Grube-Ilse-Bückgen, nach einer Braunkohlengrube in der Nähe. Alles zusammen“, Sebastian krauste die Stirn und guckte zur Decke. „Gut zehntausend Einwohner. Nicht Dorf, nicht Stadt, würde eines Tages die Braunkohle ausgehen, müßte alles wieder zu einem kleinen Dorf schrumpfen“, sagte er. „Die Bauern ringsum sind arm, waren immer arm. Es gibt dort Dörfer wie etwa Dörrwalde und eine Gemarkung, die ‘Dürrer Wolf’ heißt. Inzwischen entstehen überall weitere Braunkohlentagebaue. Riesenhafte Löcher in der Landschaft. Das sieht dort aus wie in der Sahara. Für uns Kinder waren das ideale Abenteuerspielplätze.“                   
    Es war dann zu später Stunde wohl so, daß Hoffmann sich Sebastian durchaus als eine Bereicherung des Dienstes vorstellen konnte. Dessen Jugend würde womöglich Probleme machen. Aber im Krieg da waren ebenso junge Leute beteiligt gewesen, die sich gut gehalten hatten, sehr gut sogar.
    „Also wir sind ja alle schon zu Heuchlern geworden“, hörte Hoffmann Sebastian

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