Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
Dreisitzer mieteten. Lässig waren sie ins Boot geklettert, er selbst ganz hinten. Die Sitzordnung war reiner Zufall. Und dann, er grinste, dann stießen sie mit den Paddeln ab – auch das vielleicht noch in gekonnter Haltung. Danach begann das Chaos, die Paddel verhedderten sich, das Boot bewegte sich zwar, aber im Zickzack von einem Ufer zum anderen auf dem kurzen Stichkanal zur Spree. Nichts blieb von der gespielten Könnerschaft. Am späten Nachmittag dann endlich beherrschten sie das Paddeln im Dreier. Perfekt fuhren sie schließlich zur Rückgabe vor. Sportlich sprangen sie aus dem schwankenden Boot ans Ufer, mußten sich dann aber beeilen, um den letzten Zug nach Großräschen noch zu erwischen.
In den vielen Spreewaldkanälen hatten sie sich planlos verfahren. Dabei konnten sie noch von Glück reden, denn ohne Karte findet man sich aus den weiten Wiesen und Wäldern, dem Kanal- und Grabengewirre dort kaum noch heraus, aber Karten gab es nicht. Nur zufällig konnten ihnen Spreewaldbauern, die sie trafen, den Rückweg erklären. Den letzten Zug zu verpassen hätte schließlich bedeutet im Stroh irgendeiner Scheune übernachten zu müssen.
Sebastian sah auf die Uhr, die Zeit war schnell vergangen. Als er aus dem Bahnhofsgebäude trat, schlug ihm feuchte Kälte entgegen, die Luft war dunstig. Am Abend würden hier sicher dicke Nebel aufsteigen. Der sumpfige Boden und die ziemlich kalte Luft dazu, da war Nebel programmiert. So wartete er, die Hände tief in den Taschen, den Bahnsteig auf- und abgehend, auf den Zug, der ihn nach Hause bringen sollte. Er war müde.
Als der Zug endlich einfuhr, suchte er sich ein Raucherabteil. Die Schachtel Westzigaretten knisterte schließlich verlockend in seiner Joppentasche. Bei einer guten Zigarette würde er sich auch morgen mit Hans-Peter über die Vorgänge und Erlebnisse in Westberlin beraten, überlegte er mit Blick durchs Abteilfenster in die draußen vorbeiziehende Landschaft: Wiesen, Koppelzäune, Buschwerk, Waldstücke und weite Felder in früh heraufziehendem Abenddunst. Der Freund wußte ja, daß er, Sebastian, Flugblätter angefertigt und verteilt hatte. Sie hatten Texte auch schon gemeinsam verfaßt. Er vertraute seinem Freund. Es ging gar nicht anders. Stets mußte in der Öffentlichkeit überlegt werden, was man wo und wann sagen konnte. Jeder brauchte jemanden, mit dem er sich aussprechen konnte, bei dem er so reden durfte, wie er dachte.
In der Familie war Vertrauen selbstverständlich, das war gut und längst nicht überall so, das wußte er von diversen Schulkameraden, wenn der eine Bruder zum Beispiel ein glühender Kommunist war, und der andere ihn für bekloppt erklärte, wenn der Vater Stasispitzel war und die Mutter diesen Arbeiter- und Bauernstaat total ablehnte war Vertrauen dann nicht mal mehr ein Wort.
Der Bummelzug hatte bereits an einigen kleinen Stationen gehalten. Im Abteil waren nur wenige Leute. Eine ältere Frau und ein alter Mann saßen einander gegenüber. Dazu vier junge Frauen, zwei junge Männer und an der Tür stand die ganze Zeit ein Mann in einem grauen Wintermantel mit einem braunen Hut auf dem Kopf, der zum Fenster hinaussah und eine Zigarette nach der anderen rauchte. Kettenraucher oder aufgeregt sagte Sebastian sich.
Eher aufgeregt, entschied er schließlich und zündete sich selbst eine Zigarette an. Das Streichholzheftchen stammte aus der Weinstube vom letzten Abend. Solche Heftchen waren dort auf jedem Tisch plaziert, leuchtende Farben auf fester Glanzpappe. Die Farben, überhaupt die ganze gediegene Qualität solcher Kleinigkeiten wie dieses Streichholzheftchen, dabei ließ er dessen glatte Oberfläche durch die Fingerspitzen gleiten, faszinierten ihn wie die meisten Menschen im grauen Osten. Vieles gewann so Symbolcharakter für eine hellere, buntere Welt, die bei manchen fast schon paradiesische Vorstellungen hervorrief.
Alles auf Schulden gegründet verlautete seitens der Genossen, Schulden, die die DDR nicht hätte. Der Arbeiter- und Bauernstaat, der erste auf deutschem Boden, sei schuldenfrei und man würde den imperialistischen Westen in wenigen Jahren aus eigener Kraft überholen. So klang es offiziell, stand es in den Zeitungen, tönte es aus Rundfunkgeräten, blickte es allenthalben von Transparenten und Plakaten auf den kleinen, grauen, einzelnen Bürger herab.
Sebastian schaute blicklos zum Abteilfenster hinaus. Das konnte nur schlimmer werden, sagte er sich. Hier mußte er weg! Die Mädchen, die er gestern
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