Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
eben nicht an“, erklärte Hans-Peter.
„Steptänzer“, sagte Sebastian spöttisch, „aber du hast recht, wir fahren von hier aus gleich rüber und nach Hause, vor allem, weil wir morgen schon wieder los müssen. Dann kommen wir Montagabend“, wandte er sich an Hoffmann, „womöglich aber auch erst Dienstagnachmittag gleich von Dessau aus hier vorbei. Wir rufen dann an.“
Hoffmann nickte. „Gut, dann sehen wir uns hoffentlich bald.“ Er winkte dem Ober, zahlte und verabschiedete sich.
Hans-Peter wog das Päckchen in der Hand, riß es an einer Seite auf und las eins der Flugblätter. „Nichts besonderes“, sagte er. „Ich denke, wir bringen die nicht selber nach drüben, sondern verteilen sie beim letzten S-Bahnhalt im Westen, jeder von uns in einem anderen Wagen, bevor der Zug anfährt und springen dann ab. Bei zwei Zügen ist das alles hier“, und er wies auf das Päckchen, „bestens verteilt. Und nichts mit verstecken, die Flugblätter fahren dann alleine rüber.“
„Es sei denn“, warf Sebastian ein, „es sitzt ein eifriger Genosse im Abteil, der gleich alles wieder einsammelt.“
„Die DDR-Trapos haben wir ja auch hier im Westen“, sagte Hans-Peter, „manche sogar in Zivil. Die ganze S-Bahn gehört schließlich zum Osten.“
„Wir müssen bei der Sache eben schnell genug sein. Überrumpelungstaktik, ehe jemand reagieren kann. Danach müssten wir aber mindestens eine Stunde warten, ehe wir selber rüberfahren.“
„Meinetwegen, aber ich glaube nicht, daß die uns suchen würden. Und die überraschten Leute im Zug dürften sich an uns und unserer Gesichter danach kaum erinnern, wenn sie wirklich gefragt werden sollten.“
„Komm, wir teilen uns das gleich hier auf“, und Sebastian nahm dem Freund das Päckchen aus der Hand.
„He, nicht so öffentlich“, mahnte der und sah sich um.
„Ach, hier denkt sich doch keiner was dabei“, und Sebastian riß das Zeitungspapier auf, teilte den Inhalt in zwei Stapel, hielt Hans-Peter einen hin, den der in seinen Taschen verstaute, mit dem anderen füllte er sich die eigenen. Den Rest nahmen sie in Zeitungspapier gewickelt mit.
Vom Zoo fuhren sie dann mit der S-Bahn Richtung Friedrichstraße/Alexanderplatz, jeweils in einem anderen Wagen. Beim Halt Lehrter Bahnhof verteilte jeder in seinem Abteil die Blätter mit dem Kommentar: „Bitte lesen. Das ist wichtig!“ ringsum auf den Bänken und zwischen die Leute, um dann mit beiden Armen die Schiebetür aufzustoßen und aus dem anfahrenden Zug abzuspringen. Beide trafen sich fröhlich grinsend auf dem Bahnsteig.
„Ich habe den Leuten das Lesen der Blätter warm ans Herz gelegt“, sagte Sebastian.
„Ich auch“, und Hans-Peter lachte dazu. „Die haben mich dabei angeguckt wie’n Kaninchen, wenn’s donnert.“
„Eigentlich ist das ja auch eine Dreistigkeit“, meinte Sebastian. „Jeder hat Angst und du schmeißt denen Flugblätter des imperialistischen Klassenfeinds in den Schoß und forderst sie auch noch auf, das zu lesen. Die haben beim nächsten Halt im Osten bestimmt schleunigst den Wagen gewechselt.“
„Na, wenn schon, die dann neu dazu gestiegen sind, werden die rumliegenden Zettel schon neugierig lesen.“
„Um sie wie heiße Kartoffeln“, ergänzte Sebastian, „sofort fallen zu lassen“, und beide amüsierten sich wieder.
„Wir nehmen gleich den nächsten Zug“, einigten sie sich, „ehe die getarnten Trapos auf dem Bahnsteig drüben wach werden.“
Gesagt, getan, auch die nächste S-Bahn fuhr mit den Flugblättern des Klassenfeinds in den Osten. Einige Zeit später folgten die beiden, unbehelligt stiegen sie um, fuhren dann bis Königswusterhausen durch und bekamen dort auch gleich einen Anschlußzug Richtung Heimat.
47.
Am nächsten Vormittag erklärte Sebastian seiner Mutter, daß er sich gleich mit Hans-Peter treffen würde, um mit ihm nach Berlin zu fahren. „Irene sitzt ja noch immer im Flüchtlingslager fest. Sasses wissen auch noch nicht warum. Ich werde vielleicht erst morgen zurückkommen. Wenn jemand fragen sollte, dann bin ich eben krank.“
Frau Sebaldt ahnte inzwischen wohl, daß es mit der Reiselust ihres Zweitältesten etwas auf sich haben mußte, von dem sie besser nichts wissen sollte. Daß seinem beruflich eingespannten Vater nichts auffiel wunderte Sebastian nicht, aber seine Mutter, vermutete er, war wahrscheinlich schweren Herzens doch einverstanden mit dem, was sie nur ahnte. Sie fragte nie, er sagte nichts und war dankbar dafür,
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