Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
mußte er sich doch keine glaubwürdigen Begründungen ausdenken.
Die Geschwister erwiesen sich hier als eines der kleineren Probleme. Beschäftigt mit sich selbst und ihren eigenen Querelen hatten sie keinen Blick für die absonderliche Reisefreudigkeit ihres Bruders. Eine Horde von Monomanen sagte Sebastian sich, wenn er an seine Familie dachte. Es war ihm recht und er war zufrieden damit, litten sie allesamt doch unter der gleichen Ausgrenzung und Abwertung in dem Teil Deutschlands, der sich als erster Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden ausgab.
Fahrkarten nach Dessau bekam Sebastian am Vormittag im Bückgener Bahnhof in Groschräschen-Süd für den frühen Nachmittag. Umsteigen mußten sie in Leipzig, dazu blieben ihnen zehn Minuten. Ein nächster Zug, erfuhr er, ging drei Stunden später von Leipzig nach Dessau. In dieser Zeit konnte er Christa besuchen. Auf dem Rückweg vom Bahnhof hielt er mit dem Fahrrad bei Hans-Peter und pfiff den Freund vor die Haustür. Der erkrankte Oberschüler erschien und nahm seine Fahrkarte in Empfang.
„In Leipzig müssen wir umsteigen“, erklärte Sebastian, „in gut drei Stunden geht der Zug, diesmal nicht von Altdöbern, sondern von Bückgen. Wir treffen uns dort mit Schlafanzug und Zahnbürste.“
„In Ordnung.“
„Deine Eltern?“ fragte Sebastian.
„Sind nicht begeistert über meine Bummelei. Ich muß mir da für die Zukunft noch was Besseres einfallen lassen.“
„Und denken die sich was dabei?“
„Nö. Die halten mich für so’n notorischen Bummelanten, verspätete Pubertät oder so …“ sagte Hans-Peter und grinste.
„So, so, na ja, schaff dir ‘ne Freundin an, dann hast du zumindest ein bißchen so was wie ‘ne Ausrede, wenn du mal wieder länger verschwunden bleibst.“
Hans-Peter winkte ab. „Gut“, sagte er, „wir treffen uns vor dem Bahnhof.“
Sebastian packte zu Hause sein Handköfferchen. Zuunterst legte er zwei Bücher, einmal „Flaggen auf den Türmen“ von A.S. Makarenko, ein sowjetischer Erziehungsroman, in dem die Kollektiverziehung Jugendlicher gelobt wurde, zum anderen „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolai Ostrowski, das Heldenepos eines Jugendlichen in der Roten Armee während der russischen Revolution. Beide Bücher waren ihm auf seinen Reisen von und nach Berlin, nicht zuletzt auch in Berlin schon sehr nützlich gewesen.
Gerade auch in Berlin geriet man nämlich hin und wieder in Trapo- und Vopo-Kontrollen. Jedes Mal, wenn er dann den Koffer öffnen und die Sachen darin hochheben mußte, zuckten die Kontrolleure angesichts der beiden bekannten Bücher auf dem Grunde des Koffers regelrecht zusammen und entschuldigten sich manchmal sogar, der Meinung, einen jungen, überzeugten, fortschrittlichen DDR-Bürger vor sich zu haben. Und so hatte Sebastian auch noch seinen heimlichen Spaß an solchen Kontrollen, denn wer trug schon derart „fortschrittliche“ Lektüre mit sich herum, die ja sonst kaum einer las, die jedoch viele von den Titeln her kannten.
So wurden diese Bücher nicht selten auch an Schulabgänger verteilt, so daß vielleicht die Kinder der Vopos und Grenzer diese selbst schon in die Hand gedrückt bekommen hatten, um sie dann nicht zu lesen. Auch er hatte die Lektüre, die er da zu seinem Schutz mit sich führte selbst nur durchblättert. Also auf diese Bücher packte er eine Hose, Unterwäsche, ein Hemd, Schlafanzug, Zahnbürste und Seife in einer Zelluloidschachtel. Damit war der kleine Handkoffer dann auch schon ziemlich gefüllt.
Am Bahnhof traf er Hans-Peter mit einem ähnlichen Köfferchen, alles aus Leder, alles alte Friedensware, so was gab’s natürlich nicht zu kaufen und reizte gerade deshalb vielleicht auch zu Kontrollen, aber durch die mitgeführte Lektüre wurde das mehr zu einem Spaß. Auf seinen Rat hin hatte auch der Freund ein anderes Makarenko-Poem „Der Weg ins Leben“ auf dem Grund seines Koffers verstaut.
„Wo hast du denn die Schwarte her?“ wollte Sebastian wissen, als Hans-Peter ihm davon erzählt hatte.
„Gehört Irene. Ich hab sie mir ausgeborgt.“
Sebastian lachte. Sie gingen dabei mit ihren Köfferchen auf dem Bückgener Bahnsteig auf und ab.
„Die wird das Ding bestimmt nicht mehr brauchen“, fügte Hans-Peter hinzu.
„Natürlich nicht. Was will einer mit so’nem Buch? Außerdem gab’s ja mit Sicherheit damals in Rußland nicht nur die Pawel Kortschagins wie der Held in Ostrowskis Buch. Über die anderen Jugendlichen dort, die sich ebenso
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