Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
war der verschneite Vorplatz wieder, das gläserne Telefonhäuschen, von dem aus sie vor zwei Stunden angerufen hatten.
„Dahinten irgendwo ist der Güterbahnhof“, Sebastian wies mit dem Arm in die Richtung.
„Wieso ist da ein Güterbahnhof? Hier fährt doch die S-Bahn.“
„Vom Güterbahnhof Grunewald hat man damals die Berliner Juden in die KZs geschickt.“
„Von hier aus, woher weißt du das? Hab’ ich noch nie gehört.“
„Ich habe darüber gelesen.“
„Wo kriegt man denn sowas zu lesen?“
„Ja wo? In der Schule bestimmt nicht. Da ist zwar von KZs, aber dort nur von kommunistischen Häftlingen die Rede. Juden sind ja auch bei Stalin nicht beliebt, nur war der erstmal mit der Ausrottung des Klassenfeindes beschäftigt. Millionen von Juden zu ermorden, das blieb allein unserem Führer vorbehalten.“
Und so betraten sie das Bahnhofsgebäude. Hoffmanns Westgeld gaben sie am Fahrkartenschalter nicht aus. Man konnte schließlich auch unter Vorlage des Personalausweises mit Ostgeld bezahlen.
Und so saßen sie wieder in der Bahn und fuhren über Bahnhof Zoo, vorbei am leicht schief stehenden Riesenklotz des Hochbunkers, Bahnhof Friedrichstraße, Ostkreuz und verließen in Eichwalde schließlich das Gebiet Berlins. Auf dem Bahnsteig patrouillierte wieder ein Russe in einem viel zu großen Uniformkittel, mit einem breiten Koppel zusammengeschnürt und dem daran befestigten Dolch, der dort herumbaumelte.
„Ist eindeutig ein Mongole“, sagte Hans-Peter. „Guck dir bloß die krummen Beine an.“
„Ja, und das flache Gesicht unter der Karnickelfellmütze“, ergänzte Sebastian. „Die Russen kontrollieren nur bei der Fahrt nach Berlin.“
„Na klar, ist ja der russische Sektor. Die Amerikaner kontrollieren nicht.“
„Warum sollten sie? Westdeutschland liegt ja eine Ecke von Berlin entfernt.“
Der Zug ratterte laut und rollte schunkelnd über ausgefahrene Gleise.
„Ging ja alles recht schnell“, sagte Hans-Peter in den Lärm des fahrenden Zuges hinein. „Wir sind schon am frühen Nachmittag zu Hause und die Sache ist klar.“
„Ist klar“, bestätigte Sebastian nickend und sah zum Zugfenster hinaus. Draußen zog immer noch Stadtgebiet vorbei, weiterhin ziemlich zerstört. Geschwärzte Ruinen, leere Fensterhöhlen, zerrupfte Straßenbäume und schmutzige Schneeberge an den Straßenrändern. Sebastian sah auf die Zerstörungen und dachte zurück an die Luftwarnmeldungen im Radio seinerzeit: Hier ist Eisenhammer! Hier ist Eisenhammer! Ping, ping, ping, hier ist Eisenhammer! kam es damals aus dem Lautsprecher. Feindliche Verbände im Einflug in den Raum Hannover-Braunschweig... dann die Durchsage von Planquadraten mittels Zahlen und Buchstaben. Über so einen Plan, den viele neben dem Radio liegen hatten, konnte man den Anflug der Feind-Verbände genau verfolgen. Und viele dieser Verbände flogen immer wieder die Reichshauptstadt an. Die Ruinen dort draußen, die am Abteilfenster vorbeizogen, waren das Ergebnis dieser Anflüge Tag und Nacht... ping, ping, ping, hier ist Eisenhammer … Diese Stadt sah in ihren Zentren einfach grauenhaft aus. Nur in den äußeren Randlagen wie eben in Grunewald, Dahlem und Nicolassee zum Beispiel sah man kaum Zerstörungen. Die armen Leute hatte es am meisten getroffen in den dicht bebauten Zentren, den hohen Häusern und engen Straßen. Dort war Zerstörung perfekt gelungen. Sebastian sah durch die S-Bahnfenster den Schnee auf den Dächern der Häuser, die niedriger wurden. Die Vorstadt lockerte auf, mäanderte ins Umland, auch Bombenschäden sah er nur noch wenige.
In Königswusterhausen schließlich mußten sie in den D-Zug nach Cottbus umsteigen, der auf den Fernbahngleisen bereit stand. Die Lokomotive fauchte leise, schien zu vibrieren, als sie den Bahnsteig entlang an ihr vorbeigingen, den Geruch von heißem Metall und Öl in der Nase. Aus dem Führerstand lehnte der Lokführer mit verschränkten Armen und sah dem Treiben auf dem Bahnsteig zu. Der Bahnhofsvorsteher mit der roten Mütze lief mit seiner Kelle in der Hand am Zug entlang. Türenschlagen war zu hören. Auch die Freunde hatten inzwischen Platz in einem leeren Abteil gefunden, ließen das Fenster am Zugriemen herab und sahen ihrerseits dem Kommen und Gehen auf dem Bahnsteig zu. Menschen verabschiedeten sich. Ein leerer, elektrisch betriebener Gepäckwagen entfernte sich, fuhr summend und klappernd den Bahnsteig entlang. Letzte Fahrgäste hasteten heran. „Zurücktreten und Türen
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