Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
angekündigter zehnprozentiger Normerhöhung zu Lohneinbußen zwischen 3O und 5O Prozent kommen, empörte sich ein Großräschener Zimmermann in „Drei Linden“, der in der Stalinallee arbeitete, nachdem Wirt Richard die Konsumkneipe gegen Mitternacht offiziell geschlossen hatte. Die wenigen verbliebenen Gäste einschließlich Sebastians kannte der Wirt und so konnte geschimpft werden, auf die Regierung, die Partei, auf den Spitzbart und Grotewohl, die Normerhöhung, den Warenmangel...
Wozu Geld verdienen, wenn man sich nichts dafür kaufen kann. Keine Arbeitsschuhe, klagte der Zimmermann. Seine Schuhe lösten sich auf, fielen bald von den Füßen.
„Keine Butter“, schimpfte ein Markscheider.
„Kein Gemüse, keine Vitamine, nicht mal Zwiebeln“, brummte ein jüngerer Ziegeleiarbeiter und bestellte trotzig eine Stubenlage Nordhäuser Korn.
Ein älterer Bergbauingenieur wiederum orderte dazu eine Lage Players. Die ganze Situation sei beschissen, da müsse man sich schon mal mit blauem Dunst aus dem Westen trösten, erklärte er, nachdem alle Anwesenden diesen westlichen Wohlgeruch tief inhaliert hatten und allmählich den ganzen abgesperrten Schankraum damit füllten.
Fünf Mark das Stück, so lauteten bei Richard die Preise für illegale Ware unterm Thekentisch. Jetzt hätte kein Parteifunktionär den Raum betreten dürfen. Aber das war ja schließlich eine private Runde. Alle Anwesenden hatten sich nur zu ganz persönlichem Besuch bei Richard eingefunden. So hätte man das notfalls erklären können. Sämtliche Kneipenfenster waren mit dichten Gardinen verhängt, man war unter sich, als Richard schließlich verschmitzten Gesichts einen französischen Cognac auf den Thekentisch zauberte.
„Remy Martin“ buchstabierte der Ziegeleiarbeiter das Etikett der Flasche.
„Das mußt du französisch aussprechen“, berichtigte der Ingenieur.
„Uns geht’s doch gut“, erklärte der Ziegeleiarbeiter, hob das gefüllte Cognacglas gegen das Licht und lachte. „Der Westen in Großräschen!“
„Richards westliche Exklave“, ergänzte der Bergbauingenieur.
„Aber immer nur nach Mitternacht“, fuhr der Markscheider fort.
Man prostete sich zu und Sebastian war mit von der Partie, hörte sich alles an und hielt sich selbst möglichst zurück. Aus praktischer Erfahrung hätte er ja auch nicht allzuviel beisteuern können. Doch die brodelnde Unzufriedenheit freute ihn. Was er für den Westen tat, meinte er, tat er ja auch für diese Leute hier und viele andere überall im Lande. Wer wollte schon dieses Regime? Alle hier würden sein Tun ohne Wenn und Aber billigen. Der eine oder andere würde ihn vielleicht für verrückt halten, aber verurteilen würde ihn hier niemand. Der Kreisforstmeister natürlich, der schon, der würde auf der Stelle die Stasi schicken. Ebenfalls auch Onkel Jaschek, aber sonst? Obwohl, das wußte Sebastian, es auch eine ganze Menge Leute gab, die in der Partei ihre Vorteile suchten, ebenso im Mitsingen dieser Lieder und im Nachsprechen jener Phrasen, die Sebastian schon in der Schule abgestoßen hatten. Zwei oder drei ehemalige Klassenkameraden dieser Sorte gab es hier noch, die aber schon damals keiner sehr ernst genommen hatte.
Das waren so Gedanken, die ihn bewegten, wenn er, wie dort in „Drei Linden“ bei Richard meinte, sich besser zurückhalten zu müssen. Es war ihm klar, daß er möglichst nicht auffallen durfte. Doch fiel es ihm manchmal schon schwer nichts zu sagen, sich nicht in Gespräche einzumischen, auf Fragen nichtssagend zu antworten, einfach ein bißchen den Doofen zu spielen. Sebastian traute sich selbst noch nicht ganz über den Weg. Er brauchte sich bei politischen Gesprächen nur aufzuregen und diese waren ja überall an der Tagesordnung. Die Leute schimpften, nachdem sie sich ein paarmal umgesehen und vergewissert hatten, daß sich kein Spitzel in der Nähe befand. Witze kursierten und auch Sprüche wie etwa: „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille.“ Dieser Spitzbart war ein Sinnbild des Systems, verhaßt noch viel mehr bei den Arbeitern als bei sogenannten Intellektuellen, die hier oft nur eine persönliche Karriereleiter sahen, die das Politische verdrängten, Wege daran vorbei suchten oder eben meinten, mit den Wölfen heulen zu müssen.
Doch welche Karriere wollte ein Arbeiter machen? Solche wie die des Adolf Hennecke? Überall mußten dann Hennecke-Schichten gefahren werden; oder wie die der Frieda Huckauf in der Textilindustrie?
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