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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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hingehörte. Da habe ich begriffen, dass ich mich selbst um mich kümmern muss, denn die Wahrheit ist, was anderes bleibt dir gar nicht übrig. Aber das geht in Ordnung, ich bleib dran. Ich trau niemandem übern Weg und pass wie ein Hetero im Knast beim Duschen auf meinen Arsch auf.«
    Bis wir mit allem fertig waren, hatte Carlos einen Teppich aus Leidensgeschichten gewoben, bei denen es ihm jedoch immer gelungen war, alles mit unfassbarem Humor zu akzentuieren. Er war
in der Lage, von einem Sterbenden zu erzählen und das Ganze durch einen besonderen Gesichtsausdruck in einen einzigen Witz zu verwandeln, der uns zum Lachen zwang. Mit seinen Lippen erschuf er Soundeffekte, Pfiffe und Piepstöne, die die anderen Gäste zusammenfahren ließen. Dass sie uns anstarrten, war mir egal. Genau wie die Aufmerksamkeit, die Sam immer auf uns lenkte, hatte es eine aufbauende Wirkung auf mich. Ich sagte mir, dass ich mit Carlos einen Sechser im Lotto getroffen hätte, einen übersehenen Schatz, der ignoranterweise von anderen nicht als solcher erkannt worden war. Die Meinung dieser ganzen öden Zuschauer war mir scheißegal. Das war allein deren Problem.
    Er begleitete uns bis zu Bricks Wohnung, wobei er unterwegs immer wieder anhielt, um zu singen und zu tanzen, und hartnäckig so viel Blödsinn machte, wie wir gerade noch ertragen konnten. Er sprach fremde Leute auf der Straße an, gratulierte ihnen zu ihrem Können in Karate und beim Basketball und ging nicht auf ihre Verwirrung ein, sondern marschierte einfach weiter. Er faltete eine Papiertüte zu einem Hut auf seinem Kopf, schielte und sprach noch mehr Leute an, um sie vollkommen ernst darüber aufzuklären, in beide Richtungen zu blicken, bevor sie die Straße überquerten. Er war furchtlos, und das war schlichtweg märchenhaft.
    In den folgenden Wochen übte ich mich darin, Carlos zu folgen und alles zu tun, um mit ihm in Kontakt zu bleiben, ohne dabei übereifrig zu wirken. Ich verbrachte Stunden damit, mit ihm am Telefon in Bricks Küche zu quatschen, die kringelige Telefonschnur in Form einer Acht um die Finger gewickelt, was noch gar nichts war im Vergleich zu den Zeitspannen, die wir in manchen Nächten gemeinsam durchs Viertel spazierten, vertieft in lange Gespräche, bei denen er ab und zu meine Hand hielt. In der letzten Wärme des Sommers trödelten wir auf den Wegen im Park herum, in der Nähe von Harris Field, im Licht der Straßenlaternen der Bronx, und wir teilten Geheimnisse und wurden Freunde.
    »Liz, ich muss mich bei dir bedanken.« Carlos drehte sich eines
Nachts, als wir vor Bricks Wohnhaus stehen geblieben waren, so zu mir hin, dass seine dunklen Augen intensiv in meine blickten.
    »Wofür denn? Was hab ich denn gemacht?«, fragte ich hoffnungsvoll.
    »Erstens bist du wie keine der anderen Kleinen, die ich jemals kennengelernt habe. Ich hab einfach das Gefühl, ich kann dir alles erzählen. Ich vertraue dir. Genau das, ich vertraue dir. Und das Gefühl hatte ich noch nie . Echt wahr, Gott segne dich.«
    Ich versuchte die in mir aufsteigende Aufregung so gut wie möglich zu kaschieren. Er schlug vor, dass wir noch einmal um den Block gingen; es gäbe da noch was, das er mir unbedingt sagen müsse. Meine Hand fest umklammert, nahm er mir das Versprechen ab, dass ich niemandem von dem Siebentausend-Dollar-Erbe erzählen würde, das sein Vater ihm hinterlassen hatte und das er an seinem achtzehnten Geburtstag bekommen würde.
    »Da draußen, das sind alles gierige Schlangen, deshalb muss man das Gras immer kurz schneiden, Kleeblatt. Damit man die Schlangen schon kilometerweit erkennen kann.« Er hatte mir den Spitznamen Kleeblatt verpasst, nachdem er herausgefunden hatte, dass ich irischer Abstammung war. »Vor allem, wenn die Leute kapieren, dass du stinkreich bist. Dann kommen sie ins Grübeln. Was könnte ich wohl mit dem Geld anfangen? Die Leute sind gierig, aber dir vertraue ich. Ich möchte alles mit dir teilen.«
    »Hör mal, Carlos«, sagte ich und ignorierte den Teil, in dem ich vorkam, voll und ganz. Ich war zu aufgeregt von der Vorstellung, er würde endlich ganz von der Straße wegkommen. »Darauf hast du die ganze Zeit gewartet, dass du endlich eine eigene Wohnung bekommst.« Ich drückte seine Hand und lächelte ihn an. Aber er erwiderte mein Lächeln nicht, sondern starrte mich immer noch durchdringend an, blickte mir unverwandt tief in die Augen.
    »Kleeblatt, vielleicht hast du mich nicht richtig verstanden. Ich will dich dabeihaben. Das

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